»Aikidō [aikidoː] (japanisch 合気道 oder 合氣道) ist eine betont defensive moderne japanische Kampfkunst. Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Ueshiba Morihei als Synthese unterschiedlicher Budō-Disziplinen entwickelt, insbesondere aus dem Daitō-Ryū Aiki-Jūjutsu. Die Aikidō-Praktizierenden bezeichnet man als Aikidōka.« – Wikipedia
So ähnlich steht es auch auf vielen Web-Seiten von Aikidō-Dōjōs. Manchmal steht auch explizit »friedfertige Kampfkunst« in den Erklärungen, was Aikidō ist. Aber ist das nicht ein Widerspruch »defensiv«, »friedfertig« und »Kampfkunst«? Und warum kämpfen wir Menschen überhaupt miteinander und gegeneinander?
Mal schauen, wie weit ich damit komme, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Auf der Suche danach bin ich auf die Web-Seite der Lehrerinnenfortbildung in Baden-Württemberg gestoßen, auf der das Unterrichtsvorhaben »Miteinander und gegeneinander kämpfen« für die Grundschulen dargestellt wird:
»Die Schülerinnen und Schüler erproben auf spielerische Art und Weise in Ring-, Rauf- und Kampfsituationen ihre Kräfte. Sie halten sich an vereinbarte Regeln, können sich in andere hineinversetzen und lernen sich gegenseitig zu respektieren.«
Das könnte schon fast auch so fürs Aikidō stehen. Aber es passt besser zu Kampfsportarten wie Ringen oder Boxen. Da findet ein Kampf normalerweise zwischen zwei Menschen statt. In einem oft umfangreichen Regelsystem wird festgelegt, welche Techniken verboten sind, wann einer der beiden »Punkte« macht und wie der Sieger bestimmt wird. Der Kampf findet immer zu einer festgesetzten Zeit, an einem festgesetzten Ort, oder vorher hergestellten Kampfplatz statt und für eine bestimmte Dauer. Und nicht zuletzt gibt es einen Schiedsrichter. Der entscheidet, wann eine Regelverletzung vorliegt und wie sie geahndet werden soll, und wer am Ende die meisten Punkte hat. Dieser wird dann zum Sieger erklärt.
Das unterscheidet sich sehr von einem Kampf in »freier Natur«. Das hatte schon Platon angemerkt und gesagt: »Was Du brauchst, um in Olympia den Lorbeer zu gewinnen, brauchst Du nicht auf dem Schlachtfeld.« Denn weder Ort noch Zeit noch Regeln sind festgelegt und vor allem gibt es keinen Schiedsrichter, der darauf achtet, dass der Kampf nach den Regeln und fair abläuft. Möglicherweise war Ōsensei deshalb auch gegen Wettkämpfe im Aikidō. Denn Aikidō-Techniken enden mit schweren Verletzungen oder gar dem Tod des anderen, wenn sie durchgezogen werden.
Aikidō ist eine Kampf-Kunst, in der es ein ganz anderes Ziel als Sieger sein gibt: Dafür zu sorgen, dass weder du noch der andere verletzt werden und die Aggression zwischen euch beiden aufgelöst wird. Ein wenig so wie Morgennebel in der Sonne. Es geht nicht darum stärker, härter, brutaler zu werden. Und das ist für mich die wichtigste Botschaft des Aikidō: Du benötigst keine besondere Körperkraft oder Kampfeswille, um in einer aggressiven Situation heil herauszukommen.
Generell gilt, dass der menschliche Körper vorgibt, welche Kampftechniken man selbst ausführen kann. Die wurden wahrscheinlich schon in der Steinzeit verwendet, um sich zu verteidigen oder anzugreifen. Das Ziel besteht bei all diesen darin, einem anderen Menschen so viele Schmerzen zuzufügen, dass dieser entweder aufgibt, weiter anzugreifen (Selbstverteidigung), oder angesichts potenzieller Schmerzen aufgibt und man zum Sieger erklärt wird (Wettkampfsport). Doch beides ist im Aikidō vollkommen nebensächlich.
Im Aikidō beginnt alles damit, dass du Kontakt mit einem anderen Menschen aufnimmst. Das kann ein Blick sein, eine Berührung, ein beginnender Griff oder Schlag. Für mich ist wichtig sofort die Initiative zu ergreifen und auf den anderen auszurichten, oft indem ich tatsächlich nach vorne gehe. Es handelt sich dabei weder um einen Abwehrblock, Gegenangriff, oder gar ein Aufgeben. Diese Initiative soll einen körperlichen Reflex beim Uke hervorrufen. Wenn meine Initiative als potenzieller Angriff interpretiert wird, dann will sich Uke verteidigen, z.B.in dem versucht wird, meinen Arm zu ergreifen. Sobald dieser Reflex da ist, nehme ich den intendierten Angriff sofort zurück und die Kraft der Abwehrbewegung des Uke auf.
Dadurch wird die Balance gebrochen (kuzushi 崩し).
Wird meine Initiative als Schwäche interpretiert, dann wird Uke diese Schwachstelle angreifen. Sobald der Angriff ausgelöst ist, nehme ich die schwache Haltung zurück. Beide Formen der Initiative verfolgen das Ziel, die nächste Bewegung des Uke für mich berechenbar zu machen. Erst wenn dieser Augenblick vorbei ist, beginnt die eigentliche Aikidō-Technik. Und zumindest beim Training im Dōjō soll diese Energie effizient und effektiv sein ohne jegliche Verletzung und nur sehr begrenzt Schmerzen bis zum Abklopfen.
Die fürs Aikidō typischen kreis- und spiralförmigen Bewegungen nutzen die Kraft des anderen aus dieser Initiative und verstärken dadurch das kuzushi. Es findet kein Schlagabtausch statt, kein Kräftemessen, keine Abwehr und tatsächlich auch kein Angriff.
Dadurch sieht eine Aikidō-Bewegung eher aus wie Tanzen und nicht wie Kampf.
Ich will das Prinzip »Initiative ergreifen« zum Abschluss noch einmal vertiefen. In einer normalen Kampfsituation testen die zwei Kämpfenden sich gegenseitig. Hält die Deckung, funktioniert eine Finte, steckt nicht genug körperliche Kraft dahinter. Und erst nach einer Weile des gegenseitigen Checkens fangen die eigentlichen Angriffe an. Das kennen wir im Aikidō nicht. Stattdessen wird entweder ein Angriff gestartet oder eine Schwachstelle gezeigt. In beiden Fällen muss die durch Körperhaltung ausgedrückte Intention überzeugend sein, damit der Reflex beim Uke ausgelöst wird.
In den Videos von Ōsensei kann man das meines Erachtens sehr gut sehen. Er steht nicht einfach da und wartet ab, bis der Uke in angreifen kann. In dem Augenblick, wo der Uke nahe genug dran ist, um mit dem nächsten Schritt Schlagen, Zupacken, etc. zu können, startet er. Wenn mehrere Uke da sind, kann man sehen, wie er überhaupt nicht wartet, sondern aktiv auf einen zugeht, wirft, dann zum nächsten geht. Und das alles in einer fließenden Bewegung.
Referenzen:
Bausteine zum Unterrichtsvorhaben »Miteinander und gegeneinander kämpfen« https://lehrerfortbildung-bw.de/u_mks/sport/gs/bp2016/fb3/7_klassen3_4/14_kaempfen/