Vom Lehrer zum Schüler

Von der Imitation zum eigenen Aikidō


Thomas im Vorraum seines Dōjō – Bewegung & Lebenskunst in Bonn, Mai 2023

»Asai Sensei?« tönt es hinter mir, begleitet von einem leichten Klaps auf den Schild meines Hakama. Ich bin das erste oder zweite Mal im Hombu Dōjō (1986 oder 1987) und trainiere gerade ganz eifrig. Ich drehe mich um und schaue in das freundliche Gesicht vom Dōshū. »Hai« ist meine spontane Antwort woraufhin der Dōshū lacht und weiter geht. Woran hat er das erkannt? Vielleicht an meinen Bewegungen, denn zu dem Zeitpunkt trainiere ich schon seit ca. 14 Jahren Aikidō und besuche regelmäßig die Lehrgänge von Meister Asai.
Aber er hat bestimmt das Familienwappen von Meister Asai auf meinem Hakama-Schild gesehen, das sich alle Dan-Träger von ihm auf diesen Schild kleben. Möglicherweise ist es auch eine Mischung von beidem. Denn das wichtigste Lernprinzip ist es, die Bewegungen deines Sensei zu imitieren. Du versuchst diese so genau wie möglich nachzumachen.

Es gibt eine Tendenz, die ich immer wieder beim Training beobachte. Den eigenen wichtigsten Sensei so gut wie möglich zu imitieren und bestimmte Eigenarten vom Sensei besonders zu betonen. Der Grund dafür liegt wohl darin, dass dies als Erkennungsmerkmal dient. Schaut, ich bin Schüler:in von X! Das ist ein normales Verhalten von uns als soziale Primaten. Das einfachste Beispiel dafür ist, wie wir uns begrüßen. Je nachdem aus welcher Kultur wir kommen, welcher sozialen Gruppe oder Schicht wir angehören, begrüßen wir uns unterschiedlich.

In meinem Unterricht weise ich ab und zu auf drei Dinge hin, die wir beim Imitieren unseres Sensei beachten sollten. Aikidō ist eine japanische Kampfkunst und deshalb gibt es etliche Bewegungen, die der japanischen Kultur geschuldet sind, wie z.B. das Verbeugen vor dem jeweiligen Übungspartner:in. In einer realen Situation ist das wahrscheinlich nicht hilfreich. Jeder von uns hat bestimmte Macken. So stehe ich gerne auf dem linken Bein und stütze meinen Kopf mit der linken Hand. Auch hier macht es keinen Sinn, dass jemand das von mir imitiert. Und schließlich gibt es die eigentliche Aikidō-Technik.

Doch selbst da genügt imitieren nicht. Weil wir einmalig sind, müssen wir eine Technik etwas anders ausführen als alle anderen inklusive unseres Sensei. Wir sind körperlich verschieden, haben unterschiedliche Erfahrungen, Trainingsintensität und Interessen. Wie anders darf es denn sein, ohne dass wir den Kern, den Sinn der Technik verfehlen. Ab dem Augenblick wird es subtil. Denn die äußerlich sichtbare Bewegung ist Ausdruck einer inneren Haltung. Das trifft auf Tanzen, Gymnastik, Laufen und eben auch für Aikidō zu.

Es gilt also herauszufinden, worin genau diese innere Haltung besteht. Der einfachste Aspekt ist die Atmung. Wann und wie atme ich ein und aus. Halte ich den Atem in bestimmten Phasen der Bewegung an. Aber auch andere Aspekte sind wichtig. Wie verhalten sich Becken- und Schultergürtel zueinander. Wo startet die Bewegung in meinem Körper und wie nehme ich mit meinem Partner Kontakt auf. Das alles gilt sowohl für die Tori- als auch die Uke-Rolle. Als Tori führe ich den Uke. Wieviel Kraft benötige ich dafür. Ist es für den Uke natürlich, sich meiner Führung anzuvertrauen.

Das alles kann man nicht von außen sehen. Die hier notwendige Trainingsmethode ist nicht mehr Imitation, sondern sich in die Rolle des Partners versetzen und über den Kontakt spüren, wo und wie mein Partner Kraft einsetzt und in welche Richtung diese geht. Jetzt werden die körperlichen, aber auch emotionalen Unterschiede wirksam. Ein gutes Kriterium dafür, dass ich Fortschritte mache, besteht darin, dass ich immer weniger Kraft und Bewegungsaufwand benötige, um einen Angriff des Uke durch eine Aikidō-Technik zu neutralisieren. Das heißt, jede einzelne Übung im Training ist ein Experiment und nicht ein festgelegter Bewegungsablauf.

Ellis Amdur hat das in seinem Buch »Hidden in plain sight« ganz allgemein beschrieben. Es gibt Kampfkunstmeister, die wirklich herausragen. Sie haben teilweise viele Schüler, in jedem Fall begeisterte Schüler. Die imitieren mit ihren körperlichen Fähigkeiten/Besonderheiten das, was sie bei ihrem Sensei sehen und verstanden haben. Aber das ist nur begrenzt das, was die Meisterschaft ihres Sensei ausmacht. Es beschränkt sich – wie schon beschrieben – zu viel auf Äußerliches. Und es werden ganz unterschiedliche »Akzente« gesetzt. Charakteristische Teilbewegungen werden besonders betont, übertrieben ausgeführt. Und Ellis Amdur führt weiter aus, dass die Enkelgeneration noch mehr nur die äußere Form betont und das als Erkennungsmerkmal der Clan-Zugehörigkeit nimmt. Spätestens die »Urenkel« üben erstarrte Formen, die ganz genau so ausgeführt werden müssen, um als korrekt zu gelten. Und das führt dazu, dass die entsprechende Kampfkunst immer weniger attraktiv wird und schließlich verschwindet.

Wer von den Enkeln, Ur- oder Ururenkeln von Ōsensei bewegt sich so, wie er es tat? Bei ihm kommt erschwerend hinzu, dass er seine Techniken ein Leben lang ständig verändert hat! Er strebte, denke ich, nicht nach einer »korrekten« Technik sondern nach einem Ausdruck, der Aggressivität irrelevant macht. Seine Techniken wurden nicht härter, nicht artistischer, sie wurden sparsamer. Auch wenn er wohl bis ins hohe Alter sehr kräftig war und das Krafttraining eine große Rolle für ihn spielte, wirken seine Bewegungen als über 80-jähriger einfach, freundlich und leicht. Aber wirksam! So etwas ähnliches habe ich persönlich mit Watanabe Sensei erlebt. Auf seinem letzten Seminar, das er 2018 in Togari-onsen (in der Nähe von Nagano) gab, konnte er nicht mehr alleine stehen. Seine Frau hielt ihn am Obi fest, damit er nicht umfiel. Wir stellten ihm einen Korbsessel hin, so dass er sitzen konnte. Er forderte uns auf, ihn mit katate-dori ai-hanmi »anzugreifen«. Ich kann sagen, dass ich noch nie so eine zarte Berührung erlebt habe, wie in dem Augenblick, als ich zufassen wollte. Allerdings kniete ich im nächsten Augenblick vor ihm. Und konnte nicht aufstehen.

Diese Wirkung kann man nicht dadurch erzielen, dass man die Trajektorie der Bewegung nachmacht. Ich meine, es bedarf dazu einer inneren Haltung, die einerseits entschieden ist und andererseits empathisch mit dem Uke. Ein scheinbarer Widerspruch, der sich genau in einer solchen Berührungsqualität einfach auflöst. Doch wie kommt man dahin? Wie kann man das üben und lernen? Das ist meines Erachtens genau das, was Ellis Amdur als »hidden in plain sight« bezeichnet. Es ist offensichtlich und genau in dieser Offensichtlichkeit versteckt. Wenn es einfach nur offensichtlich wäre, dann würde es nicht als Kampfkunst funktionieren. Wenn es ein »Trick« wäre, dann könnte man den nach einer Weile erkennen und sich dagegen verwahren. Aber bei Watanabe Sensei war jede Wiederholung gleich effektiv und imme


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