Was haben Schwerttechniken mit Aikidō-Techniken zu tun?

von Prof. i.R. Dr. Thomas Christaller


Thomas wärend eines Stage mit Kl. Hagedorn, in Thomas Dojo/ Bonn - 25.3.2023

Vor ungefähr 6.000 Jahren haben Menschen wahrscheinlich in Zentraleuropa (Kasachstan …) eine neuartige Waffe erfunden: Das Schwert. Es war die erste Waffe, die ausschließlich für den Kampf zwischen Menschen gedacht war. Zumindest in Europa und Asien wurden sie aus Metalllegierungen geschmiedet und geschliffen. Es gab im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Formen je nach Kampftechnik, Rüstung und verfügbaren Ressourcen. Im 16. Jahrhundert wurden Feuerwaffen erfunden und das Schwert verschwand als Waffe auf dem Schlachtfeld.

Das Wissen über die Schwertkunst erhielt sich in fast allen Kulturen nur noch in kleinen Gruppen. Lediglich in Japan wurde sie systematisch kultiviert. Denn dort wurden Mitte des 17. Jahrhundert alle Feuerwaffen verboten. Und es begann eine gut zweihundert Jahre andauernde Friedenszeit, die Edo-Epoche. Es gab keine Bürgerkriege mehr und auch keine Auslandskriege. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auch keine Angriffe von außen auf Japan. Es gab aber weiterhin das Kastensystem mit den Samurai und Adeligen an der Spitze. Allerdings verdienten sie ihren Reis eher mit administrativen Aufgaben als mit Kampf. Das Privileg, Schwerter zu besitzen, öffentlich zu tragen und auch zu nutzen, bestand weiterhin.

Daraus erwuchs das wachsende Interesse, die alten Schwerttechniken systematisch zu erlernen, just in case. Anwendungen dafür gab es tatsächlich immer noch. Wach- und Sicherheitsdienste, polizeiliche Aufgaben, Bandenkampf gab es immer noch. Deshalb verwundert es nicht, dass Iaidō居合 道sich als Kampfkunst etablierte. Die alle Kata, ich im Eishin- ryū und Seitei-Iai kennen gelernt habe, sind nur sinnvoll in diesen Kontexten. Sitzend auf Wache sein und plötzlich reagieren zu müssen, durch Straßen zu gehen und auf einmal einen zur Fahndung ausgeschriebenen Menschen zu sehen, selber im Hinterhalt auf jemand zu warten, der dann überfallen wird.

Anders als im Kendō gibt es keine wirklichen Fechttechniken sondern einfach nur ziehen,  jap. Nuki tsuke, schneiden, jap. Kiri tsuke, Schwertklinge grob säubern, jap. Chiburi 血振, Schwert in die Scheide zurückführen, jap. noto. Meistens gibt es in den Kata nur einen anderen Menschen, manchmal zwei, drei oder vier. Aber für Kämpfe auf dem Schlachtfeld sind diese Techniken ungeeignet. Es gibt eine Kata, die vollkommen aus dem Rahmen fällt: Kaishaku 介錯人, Assistenz beim rituellen Selbsttötung, jap. Harakiri 屠腹. Das charakteristische im Iaidō besteht darin, aus dem Augenblick heraus ohne Zögern zu handeln. Die drohende Gefahr umgehend ausschließen, ein für alle mal.

Ein paar Worte zum Katana, dem Schwert der Samurai. Dies ist eigentlich ein Säbel, leicht gekrümmt und einseitig scharf mit ausgeprägter Spitze. Im Unterschied zu vielen anderen Säbeln ist das Katana ein Zweihänder, der aber natürlich auch mit einer Hand bewegt werden kann. Die Länge der Klinge beträgt ca. 70cm abhängig von der Körperlänge des Benutzers. Sie ist gerade so lang, dass das Katana gezogen werden kann, wenn es im Gürtel, jap. Obi, steckt. Dies ist eine »Neuheit«, die sich ab dem 17. Jahrhundert entwickelte.

Nachdem die Samurai als berittene Krieger praktisch arbeitslos wurden, gingen sie eher zu Fuß. Damit veränderte sich das Tragen des Katana. Auf dem Pferd sitzend macht es Sinn, die Waffe wie bei allen Reiterkriegern in allen Kulturen an der Seite an einem Schwertgehänge zu tragen und bei einseitig scharfen Waffen mit der Schneide nach unten. So konnte der Krieger die Waffe ziehen ohne Gefahr zu laufen, das eigene Pferd zu verletzen. Aber als Fußgänger macht es Sinn, die Waffe schräg im Obi mit der Schneide nach oben zu tragen. Denn dann haben beide Hände den gleich langen Weg, um das Latina zum Ziehen zu ergreifen, und der erste Schnitt ist entweder horizontal oder von oben auf den Kopf des Gegenübers.

Wie kann man die Bewegungen, Techniken mit dem Katana nun in eine waffenlose Kampfkunst umwandeln? Das Grundprinzip dafür erscheint ganz einfach. Du kannst aus drei verschiedenen Imaginationen, inneren Vorstellungen wählen. Die erste besteht darin, ein imaginäres Katana in beiden oder einer Hand zu halten und dieses zu bewegen. Klingt nach Magie. Doch meine Erfahrung bestätigt mir, dass das »funktioniert«. Entscheidend ist, diese innere Vorstellung in Körperhaltung und Bewegung wirklich so auszudrücken wie mit einer realen physischen Waffe. Du kannst dies bei genauem Hinsehen in Videos, z.B. von Seigo Yamaguchi山口 清吾 sensei oder Bruno Gonzalez, erkennen. Der Uke reagiert so, als ob dieses imaginierte Katana wirklich gleich trifft und schneidet. Wirklich magisch.

Die zweite Imagination besteht darin, den eigenen Arm als Katana anzusehen. Die Kleinfinger-Elle-Seite ist die Schneide, die Finger bilden die Spitze, das Schultergelenk ist der Griff. Das wirkt genauso magisch wie die Imagination des nicht vorhandenen Katana. Du darfst nur folgendes nicht tun: Tatsächlich mit dem Arm den Uke berühren! In dem Augenblick verfliegt die Magie sofort, als wenn Du im Kino eine spannende Szene siehst und plötzlich geht das blendende Licht an. Auch hier ist nach meiner Erfahrung entscheidend, den Arm so zu bewegen wie Du ein Katana bewegst. In der Vorstellung ist dieses Katana super scharf und spitz. Du brauchst die imaginierte Schneide nur am Körper des Uke entlang gleiten lassen, dann schneidest Du alles auf. Aber ohne den Körper tatsächlich zu berühren! Es ist alles nur bei Dir im Kopf. Auch ziemlich magisch.

Die buchstäblich handfesteste Imagination ist die Dritte. Du ergreifst zuerst mit einer dann mit zwei Händen einen Unterarm vom Uke möglichst dicht am Handgelenk. Stelle Dir vor, dieser Unterarm ist Dein Katana. Wieder ist die Kleinfinger-Elle-Seite die Schneide aber diesmal ist der Ellenbogen die Spitze. Und jetzt führe mit diesem Katana horizontale oder vertikale Schnitte aus. Der Uke wird jetzt natürlich durch die Hebelwirkung des eigenen Armes bewegt. Aber das fühlt sich anders an, als wenn Du den Unterarm fasst und den Uke so werfen willst. Entscheidend auch hier wieder die Vorstellung, ein super scharfes Katana in Händen zu halten. Automatisch packst Du den Unterarm nicht mehr so fest wie möglich. Und Du reißt den Uke auch nicht am Arm nach unten, um ihn zu werfen. Hier kannst Du den Unterschied zwischen werfen und schneiden am Deutlichsten erfahren. Es ist auf den ersten Blick weniger magisch aber in jedem Fall subtil.

Für mich ist Shihō-nage 四方投げ die Aikidō-Technik, in der alle drei Imaginationen zum Einsatz kommen. Versuche es zuerst mit Katate-dori Ai-hanmi, also der Uke erfasst mit rechts Deinen rechten Unterarm. Beginne im Augenblick der nahenden Berührung durch den Uke einen Schiebeschritt nach vorne, jap. Tsugi-ashi, und drehe Deinen Arm, so, dass die Handfläche nach oben zeigt und die Fingerspitzen zur Kehle des Uke gehen. Dein Arm ist ganz leicht gebeugt wie ein Katana. Wenn das gut klappt, dann ergreift Uke Deinen Unterarm, um sich vor diesem imaginären Stich zu schützen. Dies ist die zweite Imagination. Jetzt drehe Dich rückwärts, jap. Tenkan転換, und imaginiere entweder, dass Du ein Katana in der rechten Hand hältst, dessen Schneide auf die Mittellinie des Uke zeigt, oder der rechte Unterarm des Uke ist Dein Katana. Da bedienst Du Dich der ersten oder zweiten Imagination. Wenn Du jetzt die eigentliche Technik ausführst, schneide horizontal auf Hüfthöhe des Uke, erfasse nacheinander mit beiden Händen den Unterarm und gehe nach vorne (es ist also Shihō-nage omote). Drehe Dich auf der Stelle, hebe alle drei Arme, Deine beiden und den Arm des Uke, nach oben. Stelle Dir vor, dass der Unterarm des Uke Dein Katana ist. Dessen Ellenbogen ist die Spitze. Und nun schneidest Du mit diesem Katana.

Das ist eine mögliche Übertragung. Es gibt Varianten davon und auch andere typische Aikidō-Techniken, in bei denen Du ganz analog vorgehen kannst. Zuerst einmal ist das eine ganz nette Übung. Aber warum macht das auch Sinn? Für mich ist der folgende Aspekt wichtig. Ein Katana wiegt ca. 1,3 kg. Ein Mensch 50+ kg, ist also deutlich schwerer als ein Katana. Um 1,3 kg zu bewegen, benötige ich deutlich weniger Kraft als für einen Menschen. Wenn ich mich darauf verlassen kann, dass der Uke nicht von dem imaginierten (!) Katana geschnitten oder gestochen werden möchte, nutzt er seine eigene Kraft, um sich so zu bewegen, wie das gut für mich ist. Der Uke benötigt meine Hinweise nur, um dies zu initiieren. Es kostet nicht nur weniger Kraft sondern die eigenen Bewegungen werden auch sparsamer. Es reicht die überzeugende Andeutung eines Schnittes, um den Uke in Bewegung zu bringen.

Wenn jemanden beobachtest, der auf diese Art und Weise Aikidō-Techniken ausführt, wirst Du eine enorme Eleganz feststellen. Und das ist oft genau ein Zeichen dafür, dass die Bewegung Energie-optimal ausgeführt wird. Das nehmen wir Menschen bei allen Bewegungen wahr, egal ob in einem Kampf, beim Tanzen oder bei Alltagsbewegungen wie Gehen oder Laufen. Alle Bewegungen, die einen Zweck und ein Ziel haben, das nur mit der Bewegung erreicht werden kann, z.B. Pfannkuchen wenden, sind genau dann hochwirksam, wenn wir sie als elegant empfinden. Wir bewerten so auch »artistische« Bewegungen, wo diese an sich Eindruck schinden sollen. Aber die verfolgen keinen Zweck oder Ziel jenseits von Eindruck machen. Und in einem Kampf sind solche Bewegungen meistens nicht nur unnötig sondern gefährden Dich selbst.

Vielleicht kommt daher aber der Eindruck, dass solche ja angedeuteten und sparsamen Bewegungen von vielen als unrealistisch angesehen werden. Und vielleicht kommt daher auch eine Form des Übens im Aikidō, die tat


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