Ist das Aikido? – Was ist Aikido?

Thomas nach einem Stage mit Watanabe Sensei in Bonn
Thomas nach einem Stage mit Watanabe Sensei in Bonn

Im Aikidō gibt es, wie in allen japanischen Kampfkünsten, Graduierungen, Prüfungen. Wieso es das gibt und warum genau in der Form, ist eine eigene Geschichte. Je nachdem in welchem Verband Du organisiert bist, gibt es eine Prüfungsordnung. Darin steht, für welche Graduierung Du welche Aikidō-Technik bei welchem (Aikidō-)Angriff zeigen sollst. Die Prüfungsordnung enthält das Aikidō-Curriculum. Es sagt indirekt etwas darüber aus, welche Techniken so früh wie möglich gelernt werden sollen und welche ein wenig mehr Zeit haben. Während einer Prüfung kannst Du auch aufgefordert werden, Techniken aus einer früheren Prüfung zu zeigen. Tatsächlich gibt es keine einzige Technik, die nur Anfänger ausüben oder nur Fortgeschrittene. Alle Techniken im gesamten Curriculum bleiben für alle immer gleich.

Was zeige ich also in einer Prüfung bei der jeweiligen Graduierung? Irimi-nage bleibt Irimi-nage. Shōmen-uchi bleibt Shōmen-uchi. Natürlich werde ich mit mehr Training die Bewegungen besser ausführen können. Zumindest in dem Sinne, dass ich nicht mehr so viel darüber nachdenken muss, wie die Technik ausgeführt wird. Die Bewegung wird flüssiger sein, schneller, effektiver. Ist es das, was meinen Fortschritt im Aikidō ausmacht? Teilweise schon, aber da fehlt doch was, oder nicht?

Alle Aikidō-Techniken gibt es in der einen der anderen Form auch in anderen Kampfkünsten. In meinem alten Dōjō hatte jemand das Foto einer antiken Skulptur ausgehängt, die zwei Ringkämpfer darstellte. Es war ganz eindeutig der Schlusshebel von Sankyō zu sehen. Auch die Angriffsformen sind nicht exklusiv im Aikidō. Einige, wie z.B. Shōmen-uchi sind veraltet. Und etliche werden oft nicht richtig ausgeführt, wie z.B. alle Angriffe, in denen die Arme des Tori ergriffen werden. Was macht also aus Ikkyō eine Aikidō-spezifische Technik? Oder ganz allgemein:

Was ist Aikidō?

Bevor ich eine Antwort versuche, schlage ich Dir vor, Dir drei unterschiedliche Aikidō-ka auf YouTube anzuschauen: Steven Seagal, Ryuji Shirakawa und Gozo Shioda (siehe die Links dazu unten). Welcher »Stil« Dir am besten gefällt, hängt von vielen Aspekten ab. Während Du bei Steven Seagal einen großen, schweren Mann sehen kannst, der einfach alle anderen von sich wegwirft, scheint Ryuji Shirakawa mit dem Uke einen dynamischen Tanz zu tanzen, an dessen Ende möglicherweise beide am Boden liegen.

Das Video von Gozo Shioda ist natürlich sehr speziell. Es wurde anlässlich des Besuches 1962 von Robert Kennedy in Japan gedreht. Shioda sensei gab eine Demonstration mit seinen Schülern. Kennedy war schon ziemlich beeindruckt, fragte dann aber, ob das auch gegen den da, und zeigte auf seinen Bodyguard, funktionieren würde. Shioda sensei sagte ja und lud den Bodyguard ein, sich vor ihn hinzuknien und seine Unterarme festzuhalten. Du kennst das: Kokyū-hō呼吸法. Aber schaue genau hin, was passiert. Der Bodyguard wird nicht wie gewohnt zur Seite umgeworfen, sondern er rutscht mit den Beinen nach hinten weg und kommt auf dem Bauch zu liegen. Die Bildqualität ist nicht besonders gut, aber Du kannst doch erkennen, dass Shioda sensei sich eher wenig oder sogar scheinbar gar nicht bewegt.

Bei welchen der drei Videos sagst Du, das ist Aikidō? Mein Favorit ist natürlich das mit Gozo Shioda. Obwohl er eigentlich gar keine Technik zeigt, sondern eine innere Haltung. Natürlich habe ich diese Videos absichtlich ausgewählt. Doch Du hast Dir sicherlich selber schon viele auf YouTube angeschaut. Und bei welchen sagst Du: Das ist Aikidō! Meine Frage an Dich und mich lautet: Wie kommen wir zu dieser Beurteilung? Kann es sein, dass eine Aikidō-Technik eher der Pinsel ist, mit dem ein Bild gemalt wird und nicht das Bild? Gibt es deshalb so viele verschiedene mögliche Interpretationen? Und einfach gute und schlechte Bilder, die aber nur sehr indirekt etwas mit dem Pinsel zu tun haben, der verwendet wird.

Du hast Dir sicher auch eines der wenigen Videos mit Morihei Ueshiba Ōsensei angeschaut. Z.B. das legendäre aus dem Jahr 1935 (siehe unten). Da fliegen die Uke durch die Gegend und Ōsensei tänzelt oft über die Tatami. Der Kontakt zwischen ihm und den Uke ist immer sehr kurz. Keine langatmigen Bewegungen. Und oft holt er sich die Uke ab. Schau Dir insbesondere den Teil ab 08:50 min an. Das zweite Video umfasst die letzten öffentlichen Demonstrationen. Da sind seine Bewegungen sehr reduziert. Ein alter Mann geht aufrecht über die Tatami, hebt seine Arme und die Uke fliegen. Oder er ruckt ein wenig mit dem Becken oder Arm und der Uke fliegt weg, als ob er gegen eine Wand gelaufen sei.

Was ist es, was wir da sehen? Ich finde, es ist sehr ähnlich zu dem, was in dem Video mit Gozo Shioda zu sehen ist. Es ist die innere Haltung, die Wirkung zeigt. Die konkrete Technik ist nicht so interessant. Sie ist nicht egal, so wie man ohne Pinsel kein Bild malen kann. Du musst die Maltechnik beherrschen. Jeder kann sehen, ob das der Fall ist. Aber die eigentliche Frage ist, was und wie gut drückt das Bild etwas aus, das Du mit dem Pinsel gemalt hast? Wie kann jemand lernen, solche Bilder zu malen, wenn er oder sie lernt, wie Du den Pinsel benutzt?

Ellis Amdur hat in seinem Buch »Hidden in plain sight.« sehr detail- und kenntnisreich ausgearbeitet, was er für das Geheimnis des Aikidō vom Ōsensei hält (Amdur 2018). Es sei offensichtlich, wir müssen nur genau hinschauen. Er stellt ihn in eine lange Tradition von Meistern der ostasiatischen Kampfkünste, die wie Kometen am Himmel erscheinen, eine Zeitlang leuchten und dann wieder verschwinden. Es scheint sehr schwierig zu sein, dieses spezielle Wissen und Können an andere weiterzugeben. Wenn ich Ellis’ Argumentation richtig verstanden habe, dann besteht das sichtbare Geheimnis darin, ein spezielles Training dauernd und jeden Tag auszuüben, um die „inneren Kräfte“ zu koordinieren und in einem Augenblick zur Explosion zu bringen. Deshalb rutscht der Bodyguard bei Shioda sensei einfach nach hinten weg. Deshalb fliegen die Uke bei Ōsensei, sobald sie ihn berühren.

Eine wichtige Vorbereitung für dieses spezielle Training besteht darin, die Gelenke zu öffnen. Ōsensei scheint einen speziellen Begriff dafür verwendet zu haben, der im Deutschen Trub oder Trubstoff ist, und die Schwebestoffe meint, die bei der Vergärung von Sake, Wein oder Bier entstehen. In unseren Gelenken, so Ōsensei, lagert sich so ein Trub ab und behindert die Beweglichkeit. Um die Gelenke frei vom Trub zu bekommen, müssen wir ganz viel Ukemi machen und der Tori gute Aikidō-Techniken ausführen. Dann, so sein Argument, könne man die gesamte Kraft (oder Ki) auf einen Punkt bringen genau in dem Augenblick, wo der Uke einen berührt. Es genügt eine kleine Kontaktfläche, eine kleine Bewegung, wenn überhaupt.

Ellis Amdur benutzt das japanische Wort Gokui極意 für die »geheimen oder essentiellen Lehren«, die finale Ebene der Weitergabe einer Kampfkunst. Er führt dann weiter aus, welche Gokui Ōsensei sich aneignete und von wem. Ich kann diese Ausführungen nur empfehlen (Seiten 337 – 354). In erster Linie seien es Atemtechniken zusammen mit bestimmten Körperbewegungen, die wir alle aus unserem Aikidō-Training kennen. Hier zwei Beispiele: Furitami no gyo, schütteln der ineinander gelegten Hände, so dass eine Vibration oder Welle durch den gesamten Körper läuft (eine meiner Lieblingsübungen). Ikkyō undo, eine sehr subtile Übung, die ich auch sehr gerne bei fast jedem Warm-up ausübe. Andere dagegen kenne ich gar nicht, wie z.B. Norito no Sojo, singen sehr langer Gebete mit einer speziellen Atemtechnik.

Die Schwierigkeit besteht darin, derartige Übungen so zu interpretieren, dass sie in einer Kampfsituation helfen und sogar entscheidend sind. Ellis Amdur führt aus, dass Ōsensei wohl nie etwas dazu erklärt hat. Er hat es jedem überlassen, zu sehen, was er macht und es selber zu machen oder etwas Vergleichbares. Damit wird, so Ellis Amdur, erklärbar, warum in einer Kampfkunst im Laufe der Zeit das Curriculum immer dogmatischer ausgelegt wird und das »Besondere« verschwindet. Es dauere wohl drei oder vier Schülergenerationen, bis ein solches System degeneriert und langsam aber sicher verschwindet. Es sei denn, es gibt einen Weg, das Offensichtliche wirklich sichtbar zu machen. Und ein entsprechendes Training für sich selbst aufzubauen.

Worin kann das bestehen? Wahrscheinlich nicht in Schneller–Höher–Weiter. Oder sich genau vorgeschrieben zu bewegen. Ich muss für mich herausfinden, welche Übungen bei mir dazu führen, mit weniger Kraft, mit weniger Bewegung wirkungsvoller den Uke zu bewegen. Eventuell wird der Uke schon im Ansatz seiner Bewegung gestoppt, fällt sogar hin, obwohl Du ihn noch gar nicht berührt hast. Das wären dann die umstrittenen »No Touch Throws“ .Am Schluss genügt Dir vielleicht ein Augenaufschlag, um das zu erreichen:


Kein Schmerz. Kein Kampf. Keine Angst.


Amdur 2018: Amdur, Ellis »Hidden in plain sight. Esoteric power training within Japanese martial traditions. Tracing the roots of Ueshiba Morihei’s power« Revised, expanded Edition, Freelance Academic Press, Wheaton (USA), 2018.


Steven Seagal Russia: Steven Seagal shows his aikido skills at Saratov Sambo tournament

Ryuji Shirakawa Ultimate softness! Amazing Aikido - Shirakawa Ryuji shihan

Gozo Shioda Aikido is Real - demonstration to Kennedy's bodyguard

Morihei Ueshiba 1935 https://youtu.be/98yRuBkUBGQ Aikido Founder Morihei Ueshiba 1935

Morihei Ueshiba 1967 und 1969 https://www.youtube.com/watch?v=XoDK3XuvZWw o  sensei morihei ueshiba



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