Aikido

Eine verlorene Kampfkunst ?


Thomas während des Lehrgangs mit Watanabe in Bonn

Zur Aikidokrise AJ 105DE


„Thomas, remember you are 70 years old!“ Sagte sehr freundlich Daniele Montenegro zu mir, als er 2020 wieder ein Aikidō-Seminar bei uns in Bonn gab und ich ganz normal mit jemandem zusammen übte.

Ich kann als Aikidō-Lehrer und Übender mit diesem Lob sehr zufrieden sein. Und ich bin dankbar für alle, die dazu beigetragen haben. Vorneweg die verschiedenen Shihan, bei denen ich üben durfte, vielen Gleichgesinnten, die im Laufe der Jahre Freunde wurden, den Menschen, die sich meinem Unterricht anvertraut haben, die mich zu sich in ihr Dōjō eingeladen haben. Eine sehr persönliche Erfolgsstory. Aber: Seitdem wir in 2008 das Zentrum für Bewegung & Lebenskunst geöffnet und Aikidō unterrichtet haben, hatten wir zehn Jahre lang ein Wachstum bei unseren Aikidō-SchülerInnen von jährlich ca. 4% gehabt. Danach stagnierte das und seit der Corona-Pandemie werden es schleichend immer weniger.


In Gesprächen und Artikeln (Posts auf Facebook) habe ich immer wieder gehört und gelesen, dass Aikidō sie nicht mehr anspricht, insbesondere die jungen Leute würden eher MMA, Krav Maga, BBJ oder ähnliches wählen. Da würde man wirklich lernen, sich selbst zu verteidigen. Da geht es richtig zur Sache. Im Vergleich dazu schneide Aikidō als zu viel „Friede-Freude-Eierkuchen“ ab, oft auch zu viel Esoterik, keine glaubwürdigen Angriffe, keine wirksamen Techniken. Kurz: Aikidō sei nicht effektiv, nicht Lebens- oder Praxis-nah. Eine im Laufe der Jahre verloren gegangene Kampfkunst.


Im Dezember 2017 hat Josh Gold, Herausgeber vom englisch-sprachigen Aikido Journal den Artikel „Aikido: Confronting a Crisis“ veröffentlicht. Basierend auf einer Umfrage kommt er zu folgenden Ergebnissen:

-   Das Verhältnis von Schülern zu Lehrern ist zwischen 5,1:1 (Chief Instructors) und 1,5:1 (Instructor)
-   Speziell in der Altersgruppe von 18–29 gibt es fast gar kein Interesse mehr am Aikidō
Mit der Folge, dass die Übungsgruppen sukzessive kleiner und die Teilnehmer immer älter und so noch unattraktiver für Jüngere werden.


Er schreibt ausdrücklich, dass es auch Erfolgsgeschichten gibt, Dōjōs, die vibrieren und Zulauf haben. Aber die meisten Dōjō-chō sehen schwarz für die Zukunft ihres Dōjō. Um die Situation präziser analysieren zu können, hat er bzw. sein Team Google-Daten analysiert und zwar Schlüsselworte in Suchanfragen. In dem Zeitraum von 2004–2017 wurden 86% weniger Suchanfragen zu Aikidō in Google gestellt. Das entspricht nicht dem Rückgang an Aikidō-Übenden! Aber die Zahlen signalisieren: Aikidō zieht deutlich weniger Interesse auf sich und in der Folge sinkt dann auch die Zahl der Übenden.

Josh Gold schreibt, dass der Konsens bei den Befragten in den folgenden zwei Punkten besteht, in denen wir als Aikidō-Praktizierende dringend etwas tun müssen:
–   Verbessern der Effektivität und Relevanz von dem, was wir tun.
–   Verbessern der Kommunikation mit der Öffentlichkeit über Zweck, Wert und Geschichte des Aikidō und seinen Platz in der Welt der Kampfkünste.


Aber woran liegt es, dass wir Aikidō-LehrerInnen und -Praktizierenden überhaupt in dieser Situation sind? Diese Frage möchte ich im Folgenden unterschiedlich betrachten und beantworten. Mit einem großen Vorbehalt: Soweit ich weiß, gibt es keine systematischen Studien zur Entwicklungsgeschichte des Aikidō. Was wir haben, ist eine ganze Reihe persönlicher Erinnerungen und unsere eigenen Erfahrungen. Und: Meine Aussagen sind „statistisch“ gemeint. Es gibt Dōjōs, die schon zugemacht haben, kurz davorstehen, denen es finanziell immer schlechter geht, wo keine Veränderung zu spüren ist, denn es gut oder sogar sehr gut geht.


Aikidō hat seinen Weg in die Welt gefunden durch eine ganze Reihe japanischer Aikidō-ka, die über eine mehr oder weniger lange Trainingszeit im Hombu Dōjō in Tōkyō verfügten. Sie wurden von dort entsandt, fühlten sich der Ueshiba-Familie verpflichtet und dem „Geist des Aikidō“. In einer – meines Erachtens – bewundernswerten Anstrengung gelang es den Meistern, deren Namen in der Aikidō-Welt bekannt sind, in kurzer Zeit sehr viele Menschen für Aikidō zu begeistern, eine Organisation in den verschiedenen Ländern aufzubauen, endlos viele Seminare zu geben, Graduierungen vorzunehmen. Der Platz reicht nicht, um auch nur andeutungsweise sie aufzuzählen. Ich persönlich habe über viele Jahre zuerst bei Asai sensei und dann bei Watanabe sensei trainiert. Aber auch Lehrgänge von gut einem Dutzend anderer Shihan besucht. Was diese Männer geleistet haben, ist beeindruckend!


Sie konnten das, weil sie enthusiastisch unterstützt wurden. Ihre Autorität im Aikidō nie infrage stand.


Aber auch weil es ein hierarchisches System gab mit jeweils einem Shihan an der Spitze. Es eine starke Tendenz gab, den jeweiligen Shihan zum alleinigen Vorbild für das „richtige“ Aikidō zu machen. Graduierung auch als Qualifikation zum Unterrichten nahm. Das führte meines Erachtens dazu, dass über die Jahre hinweg der jeweils praktizierte Aikidō-Stil verknöcherte. Es wurde wichtiger zu imitieren als zu interpretieren. Durch die unhinterfragte Autorität der „Alten“ unter Führung des Shihan entstanden sehr hierarchische Organisationen. Es kann sein, dass das japanische Verständnis der Akzeptanz von Autorität und Alter und die Autoritätsgläubigkeit in unseren westlichen Kulturen hier auf eine ungute Art und Weise zusammengewirkt haben. Es war und ist durchaus üblich, wenn Du auch einen anderen Shihan und dessen Interpretation des Aiki interessant und spannend findest, musst Du Deinen bisherigen sozialen Aikidō-Raum verlassen. Das führte immer wieder zu Abspaltungen und Neugründungen von Dōjōs und Organisationen. Und auch zu einem merkwürdigen Konkurrenzverhalten zwischen den so entstandenen Organisationen.


Ich bin in den letzten zwölf Jahren durchaus auch international eingeladen worden, Seminare zu geben. Es waren meistens Dōjōs, die nicht der Organisation angehörten, in der ich mit meinem Dōjō verortet bin. Umgekehrt habe ich sehr viele „fremde“ Gastlehrer nach Bonn eingeladen. Diese Art des Austausches finde ich als ehemaliger Wissenschaftler vollkommen normal und spannend. Ich möchte nicht jeden Tag Rheinischen Sauerbraten essen. Sondern ab und an auch Pizza oder Creme brulé oder ein Guiness trinken und nicht immer nur Kölsch. In der Aikidō-Welt habe ich aber oft erfahren, wie sich die Dōjōs und Organisationen nicht nur gegeneinander abgrenzen sondern tatsächlich nichts über andere Dōjōs und Organisationen kennen, selbst wenn sie in derselben Stadt sind. Die Shihan, die „Alten“ und teilweise die Dōjō-chō kennen sich schon untereinander, weil sie eben oft in demselben Dōjō, derselben Organisation angefangen haben. Aber im Laufe der Jahre ist der Kontakt abgebrochen und das Interesse am Anderen erloschen. Dies ist eine selbstgewählte Isolierung.


Das große Vorbild in einer Organisation ist immer der jeweilige Shihan - nebenbei bemerkt ist das bis heute immer ein Mann – und manche der Fortgeschrittenen imitieren diesen geradezu perfekt. In dem wunderbaren Buch „In the Dojo: A Guide to the Rituals and Etiquette of the Japanese Martial Arts“ beschreibt Dave Lowry eine Szene in einem Iai-Dōjō. Der dortige Sensei war schon alt und litt an Rheuma. Deshalb konnte er im Seiza seine Hände nur mit gekrümmten Fingern auf die Oberschenkel legen. Alle seine jüngeren und gesünderen Schüler saßen ebenfalls so da. Das Ziel des Trainings besteht also nicht mehr darin, das Aiki-Prinzip zu verstehen und es mit der eigenen Persönlichkeit auszudrücken. Die Bewegungsformen erstarren zu einem fest gefügten Kanon. Was bei dem jeweiligen Shihan tatsächlich passt und wahrscheinlich auch effektiv ist als Kampftechnik und funktioniert, wird bei diesen Imitationen entleert. Irgendwann sieht das dann auch ein Laie.


Wir lernen im Aikidō das Ukemi. Allerdings in den meisten Fällen nur oberflächlich. Es wird reduziert auf Rollen und Fallen können. In unendlich vielen Youtube Videos kannst Du sehen, wie der Uke eigentlich nicht angreift und sich dann trotzdem schmeißen lässt. In den meisten Dōjōs lernen wir nicht anzugreifen. Natürlich lernen wir die sechzehn kodifizierten Angriffe im Aikido-Curriculum des Hombu Dōjō. Aber lernen wir auch, effizient und effektiv anzugreifen? Lernen wir mehrfach hintereinander anzugreifen? Wir versuchen nur, den Tori gut aussehen zu lassen und beeindruckend zu rollen oder zu fallen, vor allem bei Vorführungen und wenn ein Shihan der Tori ist. Deshalb gibt es die vielen negativen Kommentare aus den anderen Kampfkünsten über die Relevanz von Aikidō-Techniken in einem wirklichen Kampf.


„Aikidō-Techniken kommen von Schwertbewegungen!“ Wie oft habe ich das immer wieder gehört. Ich selbst sage das auch und wie viele andere Aikidō-LehrerInnen zeige ich dann mein Verständnis dieser Metapher meistens mit einem Bokken. In etlichen Dojos gibt es in den Stundenplänen auch Stunden, in denen Stock- und Schwerttechniken unterrichtet werden. Oft sind dies Kata, die von dem jeweiligen Shihan gezeigt werden. Aber wird auch die Umsetzung in eine Aikidō-Technik gezeigt? Das habe ich in erster Linie nur bei französischen Lehrern erlebt. Wie intensiv sollte oder muss man mit diesen Waffen trainieren, um das zu verstehen und zu können? Und, muss man das wirklich, um Aikidō-Techniken zu lernen und gut auszuführen? Ist das japanische Schwert eine aktuell genutzte Waffe?


„Aikidō ist eine friedfertige Kampfkunst!“ Das oder etwas Ähnliches steht auf fast allen Web-Seiten von Aikidō-Dōjōs und -Organisationen. Auch auf unserer. Es gehe beim Aikidō nicht um gewinnen und verlieren sondern um das Auflösen oder Transzendieren von Gewalt oder Konflikt. Es soll eine Harmonie zwischen Angreifer und Angegriffenem hergestellt werden. Das führt bei vielen dazu, jede Form von zwingender Technik abzulehnen. Der Uke folgt einfach dem Tori. Für mich steht die Wirksamkeit und Gefährlichkeit der Aikidō-Techniken außer Frage. Aber der Uke darf das auch spüren, dass er folgen muss, um nicht potenziell verletzt zu werden. Das ist einer der guten Gründe, warum es im Aikidō keine Wettkämpfe gibt: Zu gefährlich. Das erste vom Ōsensei gegründete Dōjō in Tōkyō hatte den Spitznamen „Höllen-Dōjō“, weil da so hart trainiert wurde. In dem Buch „Angry white Pyjamas“ erzählt Robert Twiggy autobiografisch seine Lehrjahre bei Tomiki sensei富木 謙治. Danach sind die Jungs durchaus losgezogen, um rauszufinden, ob Aikidō wirklich „funktioniert“. Ähnliches wird anekdotisch auch von Übenden aus den Anfangsjahren im Hombu Dōjō erzählt.


Um nicht missverstanden zu werden, ich bin gegen Gewalt und absichtlicher Verletzung oder Zufügung von Schmerzen beim Training. Ich bin aber einverstanden damit, im Laufe der Zeit Techniken immer „schärfer“ auszuführen, also schneller, direkter, mit wirksamerer Kontrolle. Und natürlich nur mit Partnern, die damit umgehen können, deren Ukemi also entsprechend gut ist. Je schlechter der Angriff desto schlechter wird die Aikidō-Technik. Für mich besteht die sichtbare Schönheit guter Aikidō-Bewegungen darin, dass sie Energie-effizient sind und Hebel-effektiv. Also, mit möglichst wenig physischer Kraft mit größtmöglicher Wirkung den Uke „zu neutralisieren“, d.h. den ersten Angriff unwirksam werden zu lassen und alle anderen Angriffe unmöglich zu machen. Das Training besteht aus einer ständigen Gratwanderung zwischen zu viel Kraft, Aggressivität und gewinnen wollen und zu schwach, rücksichtsvoll und sich nur schützen wollen. Was mit dem einen Partner wunderbar geht, führt beim nächsten zu Schmerzen. Insofern stimme ich mit allen überein, die das Kontakt-Herstellen so betonen.


Das führt mich zum nächsten Punkt. In allen Sportarten werden seit vielen Jahren wissenschaftliche Erkenntnisse über den menschlichen Körper eingesetzt. Dadurch werden immer wieder neue Spitzenleistungen möglich. Natürlich spielt Trainingsintensität, Willenskraft, Begabung auch eine große Rolle. Aber gegen die Gesetze der Schwerkraft kann kein Hochspringer, ohne Kenntnis der Hebelgesetze kein Jūdō-Kämpfer eine Medaille gewinnen. Warum ist also „Kontakt-Herstellen“ beim Aikidō wirksam? Unser Berührung- und Tastsinn ist extrem leistungsfähig. Nur durch Handauflegen können wir blind mit ziemlicher Sicherheit sagen, in welchem emotionalen Zustand derjenige ist, den wir berühren. Je absichtsloser und möglichst geringer eigener Anspannung wir das tun, können wir den anderen Menschen „lesen“. Beim Aikidō spürst Du sofort, in welche Richtung mit welcher Kraft die Bewegung Deines Partners geht. Sobald Du zupackst, blockst, zu viel Kraft einsetzt, spürst Du fast nur Dich selbst. Und: Der Angriff des Uke verliert bei einer sanften Berührung ein Stück weit seine Aggressivität.


Als ich die Graduierung zum 3. Kyu erhielt, übertrug mir mein Lehrer Norbert van Soest das Training im Hochschulsport der Universität Bielefeld. Das habe ich angenommen und begann mit dem Unterrichten. Ich habe dabei all das gemacht, was ich bei meinen verschiedenen Lehrern bis dahin geübt und einigermaßen verstanden habe. Learning by Doing. Das war sicherlich eine extreme Situation. Aber soweit ich das sehe, wird bis auf wenige Ausnahmen die Graduierung zum 1. Dan als einzige Voraussetzung genommen, um Aikidō auch zu unterrichten. Unterrichtsdidaktik, Wissen über Dehnübungen, etc. erlernt man weiterhin nur durch imitieren und ausprobieren. Dabei wäre es prinzipiell sehr einfach, sich an den Trainer- bzw. Übungsleiterzertifikationen zu orientieren.


Mein letzter Punkt bezieht sich auf die Anerkennung der Graduierung in einem anderen Verband. Die Abgrenzungspolitik zwischen den großen Aikidō-Verbänden geht bis dahin, dass schon seit vielen Jahren eine gegenseitige Anerkennung der Graduierung nicht stattfindet. Dabei sind die Prüfungsordnungen formal alle gar nicht so weit auseinander. Dahinter steht meines Erachtens die Haltung, nur die Prüfungen im eigenen Verband sind ernst zu nehmende. So schließt sich der Kreis und das Ergebnis ist eine sich selbst isolierende, zersplitterte, auf sich selbst bezogene Ausübung dieser wunderbaren Kampfkunst namens Aikidō, die langsam verloren geht.

Es gibt Ausnahmen! Aber es sind nur Einzelne, die offen sind für andere Interpretationen, die weiter lernen wollen. Das wird nicht ausreichen, um Aikidō auf möglichst hohem Niveau weiterzugeben und auch weiterzuentwickeln. Jede Zeit hat ihre eigenen Vorstellungen, wie man kämpfen und sich verteidigen kann. Aber die meisten Systeme trainieren Schmerz ertragen und Schmerz geben. Es wäre wunderbar, aus dieser archaischen Vorstellung auszusteigen und einen gelasseneren Umgang mit anderen Meinungen, Lebensstilen, Konflikten zu erlernen ohne dabei auf die eigene Meinung, Unverletztheit, gegenseitigen Respekt zu verzichten. Das erfordert innere Stärke und Haltung, die sich auch in Handlungen angemessen ausdrückt.

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