Liebe Leserinnen, liebe Leser


Ich erlaube mir, Ihnen einen Text aus dem Jahr 2003 – den ich in der französischen Edition veröffentlichte, passend zu der gegenwärtigen Krise vorzustellen – er ist nur 18 Jahre alt.


Ein Boxer, egal ob Amateur oder Profi, er boxt. Ebenso ringt ein Ringer, egal ob sein Stil griechisch-römisch oder frei ist. Ganz einfach. Ohne zu viele Fragen über seine Praxis zu stellen. Ein Koryū-Praktizierender, ein Schüler einer der historischen Schulen der japanischen Kampfkünste, wie Kashima Shintō-ryu kenjutsū, Yagyu Shingan-ryu taijutsū oder Shintō Musō-ryu jojutsccc, stellt keine weiteren Fragen über das, was er tut; er wiederholt uralte Gesten, ohne zu behaupten, dass es in seiner Praxis eine andere Dimension gibt als die Weitergabe eines künstlerischen Erbes (wir empfehlen unseren englischsprachigen Lesern, sich auf die sehr reichhaltige Seite von Diane Skoss unter http://www zu beziehen. koryubooks.com/index.html und insbesondere ihr Electronic Journal of Martial Arts Sciences unter http://ejmas.com/.
Das »Aikidōka Völkchen« wandert immer noch durch den Sinai auf der Suche, wenn schon nicht nach dem gelobten Land, so doch zumindest nach seiner Identität. Sport? Exerzitien (in dem Sinne, wie Ignatius von Loyola – er war der wichtigste Mitbegründer und Gestalter der später auch als Jesuitenorden bezeichneten wurde – diesen Begriff verstanden hat)? Freizeitbeschäftigung? Elegante und subtile Selbstverteidigung? Meditation in Bewegung? Wie oft haben wir nicht gehört, dass ein Aikidōka, der mit einer Praxis konfrontiert wurde, die sich von seiner eigenen unterscheidet, kommentierte: »Das ist nicht Aikidō«? Intoleranz ist hier nur die arrogante Maske der Selbstverunsicherung. Denn wenn »das« auch Aikidō wäre, was würde ich dann tun? Die fundamentalistische, grimmige Hüterin der Aiki-Orthodoxie in denselben Korb wie die Dame aus der schönen Nachbarschaft, die einen wöchentlichen Kurs zwischen zwei andere “Wellness”-Aktivitäten quetscht? Horror! Und damit kommen Sie nicht durch: »Aikidō ist das Leben«, und es hat die Vielfalt davon. »Einer Frage ausweichen« ist nicht dasselbe wie »Tenkan machen«! Das Aikidō stellt eine Frage, und geistig wache Praktizierende können dies spüren.

In Anbetracht der Fülle und des dominierenden Themas der dem Aikidō gewidmeten Literatur sowie der Anzahl der Praktizierenden, die sich gedrängt fühlen, zur Feder zu greifen, scheint es, dass die »Suche« (ein Wort, das die französischen »Aikidōkas exzessiv lieben«) weniger die des Aikidō ist (diese wird, unserer bescheidenen Meinung nach, auf Tatami und im Schweiß durchgeführt) als die nach sich selbst. Und für viele stellt sich nach zwei oder drei Jahrzehnten Praxis ebenso die Frage: »Was mache ich hier eigentlich?« Vom Aikidō als Frage zum Hinterfragen des Aikidō: Das alte Sprichwort »Wenn du Buddha triffst, töte ihn« findet eine schöne Illustration.

Man wird uns sagen, dass das alles nur Blödsinn ist, der einen winzigen Prozentsatz der Praktizierenden beschäftigt, dass ein paar Dutzend Weichhirne nicht gegen 50000 Praktizierende (bzw. Mitglieder von Verbänden) zählen und dass im Aikiwelt alles relativ gut läuft. Die Shihans shihannent, die Leiter führen, die Kassierer kassieren, die Lehrer lehren und die Praktiker schwitzen. Gerade. Unter den aktiven und engagierten Praktikern ist der Anteil dieser Fragen wesentlich größer.

Auch wenn Aikidō für den außenstehenden Betrachter wie eine Sekte erscheinen mag (bizarre Kleidung, seltsame Rituale, esoterische Sprache), ist sie in Wirklichkeit wie eine Kirche aufgebaut. Während die Masse der Gläubigen Sakramente und Gebote befolgt, liegt die Leitung und Kontinuität der Institution in den Händen einer Hierarchie von Theologen. Entscheidend ist, was auf dieser Ebene passiert. Der Priester gibt in seiner Pfarrei eine Lehre weiter, wie sie ihm im Seminar von den Doktoren des Glaubens und ihren Nachfolgern »erklärt« wurde. Die Situation des Lehrers in seinem Verein ist nicht so unterschiedlich. Es ist das, was »oben« passiert, das mittel- und langfristig bestimmt, was »unten« gemacht wird. Wenn »oben« Zweifel bestehen, was die übermittelte Lehre ist und was ihr Zweck ist (das Aikidō für den Frieden? für das Krisenmanagement in den Vorstädten? für die Problemlösung in Unternehmen? oder das Aikidō zur Behandlung meiner Rückenschmerzen und Ängste?), kann man nicht erwarten, dass »unten« gedeiht.


Wir laden unsere Leser, ob »Gläubige« der Basis oder »Hohepriester« ein, ihre Überlegungen mit uns zu teilen.

Aus AJ 7FR 3_2003 ¡

 

Viel Freude mit dieser Edition wünscht

Die Mannschaft de AJ

      und Ihr 

Horst Schwickerath

wünschen ein friedliches Jahresende

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