Wann und wie kann ich feststellen, ob „mein“ Aikidō stimmig ist?


Thomas während des Interview mir Watanabe Sensei in Bonn

Normalerweise üben wir Aikidō in einer vorgegebenen Weise. Es werden sowohl Angriffsform als auch Aikidō-Technik angesagt. Meine Partner wissen also, was sie zu erwarten haben, wenn ich angreife bzw. welche Technik ich anwende. Im Vergleich zu einer realistischen oder gar realen Kampfsituation, in der das mit großer Sicherheit nicht gegeben ist, erscheint diese Art des Trainings fragwürdig. Als einen gewissen Ausgleich kennen wir im Aikidō das Randori, das freie Training, in der sowohl Angriff als auch Technik in unterschiedlichem Maße frei gegeben sein können. Wie kann ich bei dieser Art des Übens feststellen, ob meine Aikidō-Techniken aber auch meine Angriffe realistisch sind?

Die Diskussion dazu, wie man als Kämpfer sich am Besten auf einen Kampf vorbereiten kann, ist alt. Und nicht beschränkt auf Budo oder moderne sogenannte Selbstverteidigungssysteme. Im antiken Griechenland wurden bei den Olympischen Spielen lauter Wettkämpfe durchgeführt, die Auskunft über die Qualität des Wettkämpfers als Krieger geben sollten. Im klassischen Fünfkampf, der aus Diskurswurf, Weitsprung, Speerwurf, Ringen und Lauf bestand, mussten die Wettkämpfer unterschiedliche körperliche Leistungen erbringen. Daneben gab es Einzelwettkämpfe wie Langstreckenlauf, Waffenlauf, Faustkampf, Wagenrennen und Allkampf (Pankration) (Mixed Martial Arts aber in echt).
https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Spiele_der_Antike

Aber es gab viele Kritiker der Olympischen Spiele, die in dem Satz gipfelten: Was Du brauchst, um den Olympischen Lorbeer zu gewinnen, brauchst Du nicht auf dem Schlachtfeld! Und, nicht überraschend, waren die Spartaner und die Römer die größten Kritiker, die sportliche Betätigung, also auch Wettkämpfe, nur insofern guthießen, als sie die Fähigkeiten als Krieger oder Soldat stärkten. Selbst Platon war skeptisch gegenüber Wettkämpfen: „Jene Taktiken, die Antaios und Kerkyon aus bloßer Ruhmsucht in ihren Ringkampfstil eingeführt haben, oder die Boxpraktiken von Epeios oder Amykos sind bei kriegerischen Auseinandersetzungen nutzlos und verdienen keine Erörterung.“ (Michael B. Poloakoff. Kampfsport in der Antike. Das Spiel um Leben und Tod. Artemis, Zürich/ München 1989, Seite 150) Stattdessen plädierten sie für einen möglichst harten Drill und das Ertragen von Schmerzen.

Bei Wettkämpfen ist der Ort und Zeit bekannt, die potenziellen Gegner, genauso wie das System (Ringen, Boxen, …) und die Regeln, nach denen gekämpft wird. Mit am Wichtigsten scheint mir aber, dass es einen Schiedsrichter gibt, der auf das Einhalten der Regeln achtet und ggf. deren Missachtung sanktioniert. Das galt in der Antike genauso wie heute. Außerdem wurden gefährliche Techniken explizit ausgeschlossen, also Beißen, unter die Gürtellinie schlagen, Augen ausstechen, all das war und ist im Kampfsport verboten. Aber auch bestimmte Hebel und Schläge waren und sind auf der Verbotsliste. In einer realen Kampfsituation wird das alles nicht gegeben sein. Sie entsteht überraschend, der Gegner ist unbekannt, nach welchem System dieser kämpft ebenfalls und es wird keinen Schiedsrichter geben, der einen „fairen“ Kampf sicherstellt: „Im Kampf und in der Liebe ist alles erlaubt“ (Napoleon Bonaparte).

Was also üben wir im Aikidō und mit welchem Ziel? Ōsensei selber war zu Lebzeiten berühmt, weil er viele Kampfkünstler in der direkten Begegnung überzeugte. Es gibt viele Geschichten, in denen jemand seine Fähigkeiten anzweifelt, aufgefordert wird, ihn anzugreifen und dann ohne zu begreifen, wie ihm geschieht, geworfen oder am Boden fest genagelt wurde. Es muss ohne Wettkampf so überzeugend gewesen sein, dass viele spontan nach nur einmaliger direkter Erfahrung oder Vorführung sich im Dōjō angemeldet haben, um Aikidō zu lernen. Von etlichen wurde Aikidō als das Sahnehäubchen für die eigene ausgeübte Kampfkunst gesehen. Die Bemerkungen, die wir heute in vielen Blogs oder bei YouTube finden, Aikidō sei unrealistisch und als Selbstverteidigungssystem unbrauchbar, wären zu diesen Zeiten undenkbar gewesen. Im Gegenteil, das Kobukan Dōjō war berühmt und berüchtigt wegen der Intensität des Trainings und wurde „Höllen-Dōjō von Ushigome“ genannt (nach: Because of the intense pace and severity of the classes, as well as the presence of very advanced practitioners from other disciplines, the dōjō quickly became known as the “Hell Dōjō of Ushigome”. Guillaume Erard. History of the Aikikai Hombu Dōjō.
https://www.guillaumeerard.com/aikido/articles/history-of-the-aikikai-hombu-dojo).
Aikidō wurde von Ōsensei selber und etlichen seiner Schüler für Polizei und Militär in Japan unterrichtet. Aber auch in den USA gab und gibt es verschiedene Lehrer, die Aikidō für „praktische Zwecke“ unterrichten (George S. Ledyard. Re: Is aikidō effective for police? Beitrag im Aikiweb vom 14.01.2008 http://www.aikiweb.com/forums/showthread.php?t=13799). Nach alledem, was ich selber erlebt habe, ist Aikidō auch in realen Situationen hilfreich. Zutreffender sollte ich sagen, dass für mich meine Interpretation von Aikidō in einer Reihe von kritischen Situationen hilfreich war. Dazu gehörten physisch aggressive Situationen genauso dazu wie verbale Angriffe im beruflichen oder privaten Leben. Im Folgenden reflektiere ich diese Erfahrungen und setze sie in Beziehung zu meinem Training und Unterricht.

Da es im Aikidō-System keinen Wettkampf gibt, kein Sparring und keinen wirklichen Freikampf sondern nur gemeinsames Üben, stellt sich die Frage, wie daraus effizientes und effektives Verhalten in kritischen Situationen erworben werden kann, besonders nachdrücklich. Eine erste Antwort darauf ergibt sich aus der oben erwähnten „spartanischen/römischen“ Sichtweise auf Kampfsport: Im Aikidō können wir die gefährlichsten Techniken kennenlernen und üben, da wir dies immer im geschützten Raum, dem Dōjō, experimentell praktizieren. Im Idealfall haben wir einen kompetenten Partner, der uns einerseits wirklich angreift, andererseits aber mitgehen kann, so dass ich auc


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