Dranbleiben


Markus Lieblingsfoto …

Mit beiden Händen versuche ich, das Handgelenk meiner Trainingspartnerin zu erwischen. Okay, ich soll nicht so prankig zugreifen, das stört die Harmonie, mehr so mit Daumen und Zeigefinger, sonst wird das ja auch viel zu eng und da kann dann nichts mehr fließen. Ich bin zu Besuch in dieser Aikido-Richtung und kenne mich mit den Gepflogenheiten hier nicht aus, gebe mir aber Mühe, alles nachzuvollziehen. Die Leute sind sehr nett und nehmen meist Rücksicht auf mich. Jetzt greife ich wohl akzeptabel. Meine Partnerin stellt sich neben mich und fängt mit kleinen Trippelschritten an, sich auf der Stelle zu drehen. Ich bin irritiert, folge ihr aber mit meiner Ausrichtung. Ich versuche, nicht verloren zu gehen, mich immer wieder neu auf ihr Zentrum auszurichten – auch wenn mir noch schleierhaft ist, was das gerade wird.

Mein Verständnis der Aufgaben eines Uke ist, dass ich dranbleibe oder das zumindest versuche. Dran am Zentrum meines Partners, dran an der Rolle des Uke, der nicht nach dem ersten Kontakt zu einem schweißfeuchten, passiven Haufen erschlafft. Totfisch-Uke nennen wir die bei uns. Die Konzentration, Aufmerksamkeit und Ausrichtung von mir ist auch nach dem Erstkontakt noch relevant. Aikido kann nur dann mit der Energie von Uke arbeiten, wenn diese auch da ist. Ein krampfhaftes Festkrallen und Ausblockieren von allem ist damit allerdings auch nicht gemeint, denn da lernt niemand etwas – weder zu viel noch zu wenig ist gefragt. 

Zu den Aufgaben von Uke gehört es auch, auf die eigene Struktur zu achten. Unsinnig ist beispielsweise, sich bis kurz vor Rückgratbruch ins Hohlkreuz führen lassen. Vielmehr sollte man rechtzeitig darauf achten, den eigenen Körper zu schützen, sich wieder durchzupendeln, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, oder durch eine rechtzeitige Falltechnik Verletzungen auszuschließen. Dieses Dranbleiben ist also nicht nur eine Aufmerksamkeit dafür, was meine Partnerin da gerade macht, sondern auch dafür, was mit mir dabei passiert.

Diese Aufmerksamkeit ist auch in der umgekehrten Perspektive erforderlich. Schließlich geht es ja nicht nur darum, wohin ich meine Beine, Arme und was da noch so ist sortiere, sondern auch darum, welche Auswirkungen meine Aktionen auf Uke haben. Dazu gehört auch, dass ich den Raum und die anderen Übenden mit in der Wahrnehmung behalte. Bleibe ich mit meiner Aufmerksamkeit nur an Uke, übersehe ich womöglich, dass da im gleichen Moment noch ein Paar wirft, und die Uke, die an der Stelle nicht viel dafür können, rasseln ineinander. So, wie ich als Uke Verantwortung dafür habe, sowohl an der Partnerin dranzubleiben als auch, mich zu schützen, so haben auch die, die Techniken ausführen, Verantwortung für mich.

Vergessen darf man auch nicht, dass es sich um eine Lernsituation handelt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber alles schon perfekt beherrscht. Zimmere ich meiner Partnerin ein Bokken auf den Schädel, dass es kracht, dann handelt es sich um mein Versagen, denn ich hatte meine Aufmerksamkeit nicht bei ihr und meine Aktion nicht ihren Bewegungen angepasst. Natürlich soll sie lernen, an der richtigen Stelle auszuweichen – unter Volldampf blind draufhalten darf ich deswegen aber noch lange nicht.

Insbesondere vor Prüfungen werden die Lernsituationen meist besonders intensiv wahrgenommen. Sowohl für die angehenden Prüflinge als auch für die vorbereitenden Lehrer ist der Aufwand eine nicht zu unterschätzende Beanspruchung. Immer wieder gibt es Hinweise, detaillierte Erläuterungen und Korrekturen. Auch ein Dan-Grad fordert Blut, Schweiß und Tränen, um es mit Churchill zu sagen. Und immer gilt es dranzubleiben an den wichtigen Details, damit es irgendwann der Körper ist und nicht der Kopf, der die richtigen Bewegungen macht.

Das Wissen um etwas stellt für sich allein nämlich erstmal noch keine belastbare Kompetenz dar. Aikido ist eine Bewegungsdisziplin, die daher eine Verinnerlichung von motorischen Abläufen erfordert. Die Bewegungsmuster werden durch fortwährende Wiederholung derart internalisiert, dass sie spontan zur Anwendung gelangen können, statt durch Entscheidung ausgewählt und danach bewusst durchgeführt zu werden. Die motorischen Lernprozesse sind insofern wichtiger als die kognitiven. Eine Analyse der Bewegungen auf intellektueller Ebene kann zwar helfen, die körperlichen Abläufe genauer zu erfassen, Aikido ist aber keine intellektuelle Disziplin, sondern eine praktische.

Jede Ausführung einer Technik ist ein praktisches Experiment, dessen Ablauf in die Durchführung der Folgeexperimente, der nächsten Technikausführungen, einfließt. Damit unterscheidet sich Aikido auch grundlegend vom Konstrukt einer Philosophie, in der das Nachdenken über und die intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Themenfeld im Vordergrund stehen. Aufgrund dieser Freiheit von Gedanken (die zugegeben einige Jahre intensiven Trainings erfordert) wird Aikido mitunter auch als „Meditation in Bewegung“ bezeichnet.

Diese Internalisierung muss gelenkt werden, um ein Einschleifen von Fehlern zu vermeiden. Ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin gibt daher viel Energie in eine Prüfungsvorbereitung, um das Fundament, auf dem die Schülerinnen und Schüler irgendwann hoffentlich ihr eigenes Aikido-Gebäude errichten, möglichst tragfähig auszugestalten. Sie sollen schließlich irgendwann die nächste Generation ausbilden, also heißt es auch für Lehrende: dranbleiben. Wie viele hören aber wieder auf, statt selbst ebenfalls dranzubleiben – vor mir liegen zehn Jahre alte Lehrgangsfotos. Von den 50 Leuten auf dem Gruppenbild sind heute noch neun aktiv, wenn ich richtig gezählt habe.

So eine Vorbereitung bindet sehr viel Aufmerksamkeit des Lehrers, die andere auch gern hätten. Nach der Prüfung ist daher die Zeit, dem Lehrer und der gesamten Gruppe, die das Dojo ausmacht, etwas zurückzugeben, indem man sich im Training einbringt. Auch wenn es angenehm erscheint, nun nicht mehr im Fokus der Beobachtung zu stehen, so macht es doch einen schlechten Eindruck, wenn nun erstmal Chillen angesagt ist.

Einige legen nach Prüfungen einen gemütlicheren Gang ein, lehnen sich etwas zurück, besuchen nicht mehr jedes Training und kommen nicht mehr zu jedem Lehrgang mit. Ja, der große Druck ist nach der Prüfung raus, und es schadet dem eigenen Aikido nicht, wenn man nun ein- oder zweimal nicht mit auf der Matte ist. Dennoch ist es eine Aussage, wenn man den Friseurbesuch oder die Pokerrunde so legt, dass dafür Training ausfällt, denn man hat es in der Hand, Termine in die trainingsfreie Zeit zu legen.

Welche Art von Wertschätzung man gegenüber Lehrer und Mit-Aikidoka an den Tag legt, liegt insofern an einem selbst. Auch wenn man selbst nun nicht mehr für jeden Minifehler korrigiert wird, so sollte die Vorbereitung doch einiges an Kompetenzzuwachs bewirkt haben, was man auch als Uke einbringen und so etwas von dem, was man bekommen hat, auch wieder an das Dojo zurückgeben kann. Wer nicht dranbleibt und nach der Prüfung nicht mehr kommt, fehlt den anderen mindestens als Trainingspartner.

Es gibt auch das andere Extrem – Leute, die nach einer bestandenen Prüfung auf extra viele Lehrgänge fahren, damit auch ja alle mitbekommen, dass sie ja nun einen Grad hochgeruckelt sind. Im Notfall kann man ja auch nochmal erwähnen, dass man nun 3. Dan ist, oder sich das auf den Gurt sticken lassen.

Meine Übungspartnerin hat ihre Kreiselbewegung inzwischen anscheinend beendet. Sie geht herunter in die Knie, richtet sich wieder auf und führt ihre Hände hoch über ihren Kopf, um sie anschließend in meine Richtung zu schieben. Neugierig schaue ich, was nun wohl passiert und bleibe weiter dran. „Das ist übrigens die Stelle, an der Du fällst,“ lässt sie mich wissen. „Oh,“ hake ich nach, „warum?“ „Na, wegen dem Ki.“ „Ach so,“ sage ich und rolle davon. „Geht doch!“

Markus Hansen lebt und unterrichtet Aikido in Schleswig-Holstein
Unter kolumne@aiki.do freut er sich über Feedback. https://www.aikido-kiel.de/

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