17:00 Uhr, Abfahrt. Also, wenn unser Plan hinhaut. Die Fähre nach Göteborg wollen wir erreichen, um in Schweden fernab dichter Besiedlung unseren Sommerurlaub zu verbringen. Das ist ziemlich bequem – von unserem Wohnort bis zum Fähranleger sind es je nach Verkehrslage grade mal zehn bis fünfzehn Minuten Fahrzeit. An Bord ist die Kabine schnell gefunden und schwupps kann man auf das große Sonnendeck und sich beim Auslaufen durch die Kieler Förde den leichten Wind um die Nase wehen lassen. Es gibt da nur ein kleines Problem: Die Fähre wartet nicht.
Inzwischen nehmen wir es mit Humor, wenn wir nicht zum avisierten Zeitpunkt loskommen, aber in den ersten Jahren war das Stress. Irgendwie hat es zwar immer hingehauen, dass wir die Ausdrucke grade noch so aus dem Drucker gezerrt hatten, um schnell noch last minute die Steuererklärung beim Finanzamt abzugeben, bevor sich direkt hinter uns die Boarding-Klappe schloss – ein entspannter Start in den Urlaub sieht jedoch anders aus. Einmal hat uns sogar ein mitleidiger Nachbar den Umschlag mit der Steuer aus der Hand genommen, damit wir das Schiff erreichen konnten.
Dieses Jahr soll alles anders werden. Mit Sohn und Tochter sitze ich bereits im Auto, meine Frau muss nur eben schnell noch ein paar letzte E-Mails verschicken. Das geht eigentlich fix. „Zehn Minuten noch,“ ruft sie uns zu. Acht Minuten später fällt dem Sohn ein, dass er besser doch eben schnell nochmal die Toilette aufsuchen sollte. „Dauert höchstens fünf Minuten, Papa.“ Auf dem Rückweg hat er von seiner Mutter erfahren, dass auch sie in maximal fünf Minuten kommen würde, während die Tochter lieber ganz kurz nochmal reingeht, um doch noch ein weiteres Kuscheltier mit einzupacken. Irgendwie haben wir das mit dem Timing heute nicht im Griff.
Timing. Das ist so ein englischer Begriff, für den es keine schöne und treffende deutsche Bezeichnung gibt. „Zeitliche Koordination“ klingt einfach so ein büschen gestelzt, auch wenn es dem Konzept vermutlich recht nah kommt. Und mal ganz ab von der Wortbedeutung ist es auch inhaltlich gar nicht so leicht umzusetzen. Uke steht mir gegenüber, ihr Jo visiert mein dezentes Bäuchlein an. Gleich kommt der Stoß. Bewege ich mich zu früh, kann sie sich locker anpassen und meine Ausweichbewegungen waren für die Katz, werden unter „stets bemüht“ verbucht und mit einem blauen Fleck quittiert. Reagiere ich zu spät, verwandelt Uke mich mit hinreichend Wuppdizität womöglich in ihr Schaschlik.
Im Training ist es oft noch schwieriger, die Sache mit dem Timing auf die Reihe zu bekommen, wenn man weiß, was gleich kommt. Ist beispielsweise Shiho-Nage aus Yokomen-Uchi als Übungsform angesagt, ist es mindestens am Anfang des Weges ausgesprochen verlockend, eben nur auf den einen Arm von Uke zu achten, der bestimmt gleich auf einen zusaust. Da – sie hat gezuckt – hin zum Arm und, oh, äh, doch nicht. Wird das Training etwas freier gestaltet, indem auf die Festlegung genau eines Angriffs verzichtet wird, fällt der innere Fokus auf einen bestimmten Angriff zumindest ein wenig zurück. Dann fällt es leichter, sich mit Uke zu synchronisieren, die eigene Position, Haltung und Ausrichtung intuitiv anzupassen, wenn sie Winkel oder Distanz zu mir auch nur minimal ändert, um einen Angriff einzuleiten. Diese Synchronisation findet dann statt, bevor der eigentliche Angriff auch für ungeübte Augen zu sehen ist. Nicht zuletzt deshalb wirkt gutes Aikido für Außenstehende oft vor allem gut abgesprochen.
Hat man sich diese intuitive Synchronisation zu Eigen gemacht, kann man mit ihr spielen. Dann kann es gelingen, darüber Kontrolle über die Bewegungen von Uke zu erlangen. Denn Uke hat ja ein bestimmtes Ziel angepeilt und ihre Bewegungen darauf ausgelegt, es zu treffen. Schaffe ich es, das Timing meiner eigenen Bewegungen soweit zu optimieren, dass sie nicht bewusst bemerkt, dass sich ihr Ziel im Raum bewegt, wird sie sich intuitiv anpassen und ein klein wenig mehr aus ihrer stabilen Haltung herauskommen, so dass ich anfangen kann, mit ihrem Gleichgewicht zu spielen. Klar, wenn ich beim Ausweichen erst mal bis in die Pampa hoppel, wird sie das bemerken und mich eher auslachen. Um über Manipulation der Synchronisation zu führen, muss ich die Veränderungen möglichst minimal und unauffällig halten. Und das Timing muss halt stimmen.
Im Prinzip bedeutet Aiki 合気 genau dies …
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