Der freundliche ältere Herr mit Strohhut, Shorts, bunt gemustertem Hemd und verspiegelter Sonnenbrille auf dem Campingplatz strahlte pures Vergnügen aus. Er genoss es sichtlich, sich mit den jungen Menschen zu unterhalten, die um ihn herumstanden. Seine offenkundige Lebenslust und das weiche, warme Licht der bald im Atlantik untergehenden Sonne prägen die Atmosphäre meiner Erinnerung. Die zwanzig Jahre, die seitdem vergangen sind, haben sicherlich einiges weichgezeichnet, aber es ist ein in mir ausgesprochen nachklingendes Erlebnis, denn es kollidierte mit meiner Erwartungshaltung.
Während Horst Schwickerath, den ich damals noch nicht kannte, die Erstausgabe seines Aikidojournals auf die Beine stellte, verbrachte ich als noch recht frischer Shodan den Sommer in Frankreich bei einem Aikido-Lehrgang in der Nähe von Bordeaux. André Nocquet beging im Laufe der Woche seinen 80. Geburtstag, und eben er war es, den ich so frisch und fetzig zu sehen nicht erwartet hatte. Menschen, die viermal so alt waren wie ich, die noch dazu eine herausragende Position im Soziotop Aikido einnahmen, die trugen gefälligst konservativ-traditionelle Kleidung in gedeckten Farben und versprühten eine weise und erhabene Unnahbarkeit, statt optisch Tom Selleck in „Magnum“ Konkurrenz zu machen. Davon schien er allerdings nichts zu wissen.
Da meine französischen Sprachkenntnisse nicht sonderlich ausgeprägt waren, stand bei diesem Lehrgang vor allem die Körpersprache im Fokus meiner Wahrnehmung. Ich habe vermutlich so einiges verpasst, denn Nocquet erzählte eine Menge, auch von seinen Erlebnissen mit Morihei Ueshiba, wovon der überwiegende Teil leider an mir vorbeirauschte, denn auch die zusammenfassenden Übersetzungen, die es mitunter gab, konnte ich nicht immer wirklich hören. In erster Linie wollte ich mich aber auch bewegen, mich austoben, wollte Aikido lernen und noch ein paar Aikidoka begegnen.
Zu diesen Aikidoka gehörten auch vier Jungs aus England, sie hießen Paul, Paul, Paul und Paul, und weil uns – ich war mit einigen Freunden aus Norddeutschland unterwegs – das nicht so richtig praktisch erschien, nannten wir sie John Paul, Paul Paul, George Paul und Ringo Paul (sie waren schließlich Briten!). Ich erinnere mich, dass Ringo Paul hauptberuflich Assistenzhunde für Sehbehinderte ausbildete und ich mit ihm ein sehr spannendes Gespräch über Parallelen zwischen gut ausgebildeten Hunden und gut ausgebildeten Uke hinsichtlich der Aufmerksamkeit, die in Richtung Leitfigur beziehungsweise Nage/Tori zielt, führte. Im Dojo war es allerdings sehr heiß (grad für uns Nordlichter), so dass ich da als Assistenzhund mitunter wohl eher etwas schlaff rüberkam.
Das Training war jedoch ausgesprochen interessant. Während Nocquet das Training am Vormittag selbst anleitete, ließ er die Nachmittagseinheit in kleineren Gruppen von seinen höherrangigen Schülern gestalten. Angesichts seines fortgeschrittenen Alters bereitete er wohl den Übergang in die nächste Generation vor. Wir löcherten diese seine Schüler mit allen mehr oder weniger schlauen, dafür umso neugierigeren Fragen, gaben mitunter auch nach Trainingsende keine Ruhe. In einem der Haufen in meinen Regalen schlummert noch ein Foto eines Rokudan, der uns unter der Dusche mit einem Handtuch um die Hüften nochmal den Sankyo erläutert.
An seinem Geburtstag selbst lag es Nocquet vor allem am Herzen mit einem seiner Schüler – den Namen weiß ich nicht mehr, aber in einem anderen Haufen liegt noch eine VHS-Casette davon – eine Szene aus einem Samurai-Film nachzuspielen, wofür sich beide in indigoblaue Yukata warfen. Die Freude und Begeisterung sah man aus beiden herausleuchten. Solch leuchtende Augen und Spaß am Spiel kannte ich von Kindergeburtstagen, erwartete sie nicht bei Leuten im Alter von 80 Jahren.
Ich denke, diese Begeisterung, die sich durchs ganze Leben zieht, ist auch etwas, was Aikido auszeichn …
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