Watanabe Nobuyuki Sensei.

Watanabe Sensei und die Dolmetscherin lesen im AJ.
Watanabe Sensei und die Dolmetscherin lesen im AJ.

AJ Gudrun: Dann entsteht Plus?

Man muss sich das wie bei einem Magnet vorstellen, wenn man zum Beispiel mit einem Nagel an einem Magneten geht, dann wird dieser auch magnetisch. Deshalb sollte man beim Training kurz die Hände zusammenführen, dann werden beide Seiten [Hände] kurzzeitig Plus. Deshalb immer die Hände zusammenführen. Die Fingerspitzen sind wie die Blätter von den Bäumen, die sich bei jedem Lufthauch sanft auf - und ab bewegen. Wenn man sich jetzt wieder einen Ball vorstellt, der auf ein nach unten gerichtetes Blatt trifft, dann würde der Ball sich obenherum wegdrehen. Wenn das Blatt nach oben zeigen würde, dann würde der Ball nach unten wegdrehen. Wenn man sich diesbezüglich weiterbilden möchte, dann muss man die Bäume beobachten. Wenn sich ein Blatt zu sehr wegdreht, dann fällt es vielleicht ab, dann stirbt es sehr wahrscheinlich. Wenn es sich aber in kurzen zweidimensionaler Spiralform nach oben dreht, dann ist es stark. Das gilt auch für das Training, man kann das direkt übertragen nutzen. Wenn man seine Hände und Arme bewegt, wie dies die Bäume tun, dann wird es sehr interessant. Wenn ich in einem Dojo stehe und hinausschauen kann und einen Baum sehe, dann schaue ich kurz und entscheide heute das Training so zu gestalten, wie jener Baum sich mir darstellt – am nächsten Tag, nehme ich einen anderen Baum. So gestalte ich mein Training. 

 Es gibt wenige Dojos, die ein Betrachten von Bäumen zulassen, weil die Hallen weder Fenster noch Atmosphäre haben. Auch läuft ein Training immer anders ab, als ich dies gestern, in Ihrem Training, sehen konnte. Kann ich denn überhaupt mit einer „normalen Trainingsmethode“ ein Aikido, wie Sie es zeigen, erlernen?

Es ist immer eine Frage, ob man stärker sein möchte als eine andere Person. Aber dies widerspricht dem Prinzip des Friedens und der Freundschaft. Es wäre interessanter, die Stärke der Natur zu suchen, denn sie ist das Stärkste das uns umgibt. Darin kann man seine eigene  Größe, Stärke und Schönheit finden.
In den Gräsern, Sträuchern und Bäumen sieht man ein unbändiges Wachstum, täglich wächst und sprießt es Auge um Auge, Ast um Ast weiter, ohne Grenze. Der Mensch dagegen fängt spätestens mit 30 Jahren an, sich „zurück zu bilden“, er wird kleiner – der Baum aber wächst weiter. Die Schwerkraft zieht uns Menschen zurück. Wenn wir die Hand heben sollen, dann heben wir den Arm, an dem dann sofort die Schwerkraft wirkt. Wir sollten aber erst den Arm senken und dann ihn heben – wie beim Tennis, der Ball wird erst auf den Boden geworfen dann wieder gefangen und erst dann zum Schlag hochgeworfen … Deshalb sehen Sie diese Bewegung auch bei mir, selbst bei einem Angriff führe ich meine Hand erst in Richtung Boden, bevor ich sie hebe – damit schneide ich die Schwerkraft ab. Dabei stoße ich gleichzeitig meinen Atem aus. Durch all dieses wird mein Tun stark.

Wenn ich diese Bewegung bei Ihnen sehe, dann erscheint es mir, als möchten Sie meinen Angriff nach unten, in die Erde leiten.

Oft kann ich dem nicht widerstehen und spiele solche Streiche mit den Angreifern. Aber dies ist gefährlich, deshalb eben nur manchmal. (lacht)
Normalerweise nehme ich die Energie auch nicht an. Zumal das direkt nach unten führen zu gefährlich für den Angreifer ist – nach links oder rechts geht das, aber nicht nach unten. Bevor ich aber Energie aufnehme, wenn ich denke, dass es für mich gefährlich werden kann, benutze ich die Dreiecke; zum Beispiel in dem ich mit dem Finger auf den Fuß des Angreifers zeige. 
Wenn man spürt, dass der Angreifer sich gleich bewegen will – das ist dann so, als ob ein Ball auf einen zurollt. Dann kann man ihn mit dem Finger ziemlich weit unten geführt stoppen, so bildet sich ein Dreieck – aber unten, so kann er nicht weiter rollen, sein Angriff ist gestoppt. Aber mit beiden Händen und unterhalb von der Mitte, denn sonst kann er sich frei Drumherum bewegen.

Warum ist es gefährlich die Kraft nach unten abzuleiten?

Das Gefährliche daran ist, dass der Ball sich ja dreht, die Kraft rollt auf mich zu. Führe ich nun die Energie nach unten, dann senkt sich auch der Kopf des Angreifers nach unten, so kann dieser auf sein Gesicht fallen, oder sich die Zähne verletzen. Die Vorstellung ist zu gruselig, deshalb unterlasse ich in solchen Situationen das Spielen von Streichen. Deshalb lieber ein Stoppen als ein nach Unten führen. Es ist ja kein Kampf, sondern es geht um das Herz beim Aikido. 
Ich nehme den Angriff auf und schiebe ihn sanft zurück. Das ist im Aikido eine schwierige Situation.

Können wir nochmals auf die Frage zurückkommen, ob das allgemeine Training nicht den Eintritt in Ihr Aikido versperrt?

Alle möglichen Techniken sind nicht interessant, das Wichtigste für mich ist die Atmung. Sich ganz natürlich bewegen und natürlich gehen ist wichtig. So hebt sich der Arm fast automatisch in die stärkste Linie – ohne Kraftanstrengung. Also so ca. 90° von Körper, so bildet sich wieder ein Dreieck. Jeder 90° Winkel ist stark. Dies zu lehren ist wichtig, sodass die Schüler dies einmal erfahren und erfühlen können – dann können sie das auch behalten. Mein Aikido, das Watanabe-Aikido, beinhaltet dies – das möchte ich den Teilnehmern gut vermitteln, wenn alle das lernen, dann sind alle stark – alle sind dann gleich.

Die Atmung ist, wie bereits gesagt, sehr wichtig, wenn nicht richtig geatmet wird, dann ist auch das Rollen nicht einfach. Leider beachten die meisten nicht den 90° Winkel, was dann  zu einem nicht positiven Gefühl führt.


Als Sie 1953 mit dem Aikido begonnen haben, wie hat Osensei das unterrichtet?

Er hat überhaupt nichts unterrichtet – er hat einfach nur so eine Handbewegung gemacht und alle sind geflogen. Ich habe am Anfang nichts verstanden. Aber immer mit zwei Händen. Das ist dann wie mit den zwei Polen, plus und minus. So als würde man einen Ball umfassen – so bilden die Hände einen Kreis, den man auf den Partner übertragen kann. Der Kreis ist auch eine sehr starke Form. Die Arme sollte dabei nicht am Körper anliegen, was man leider oft sieht – denn nur wenn sie vom Körper abstehen, dann ist mein Kreis stark und mein Lungen haben viel Volumen, was mir ausreichend Atem gibt um mich frei zu bewegen. Wenn die Arme aber am Körper anliegen, dann kann ich wieder meine Streiche spielen (Lacht). Deshalb lehre ich die stärksten Linien. Wenn viel und ausreichend Luft in der Lunge ist, dann fließt die Energie – wenn aber keine ausreichende Luft in der Lunge ist, dann ist der Energiefluss blockiert. Mit genügend Luft ist auch der Blutfluss angeregt.

Wenn jemand in der Schulter blockiert ist, dann heißt es immer, „lass doch locker“, nimm die Schulter runter… aber wenn die Schulter weiter herunter genommen werden, dann haben die Lungen noch weniger Volumen. Man sieht nie Tiere so laufen wie der Mensch oft läuft – die Tiere haben immer die Schulter hoch und können so besser, freier atmen. Es ist sehr wichtig, dass sich die Schulterblätter frei bewegen können. Gerade Schulterblätter geben viel Stärke.

AJ Gudrun: Man sagt doch, wenn die Schultern oben sind, dass man dann verspannt ist.

Es ist nicht nur ein einfaches Anheben der Schultern, bei einer gewissen Höhe der Schulterblätter schließt sich ein bestimmter Punkt zwischen den Blättern – woraus dann die unendliche Acht entsteht. Sie muss in Bewegung bleiben, dann kann sie auch nicht blockieren.

In der Budowelt sind manche Punkte gefährlich. Man muss zum Beispiel bei einem Ikkyo die Arme höher halten, so kann ich meine Energie auf das Herz richten. Meistens aber sind die Schultern unten und dann wird versucht den Arm zu hebeln, was nicht funktionieren kann. So wird viel Zeit und Energie verschwendet. Ich muss bei einem Ikkyo das Ellenbogengelenk als einen Ball ansehen, dann kann ich die Kraft direkt umlenken in Richtung Herz.

Sie haben ja früher Sumo praktiziert, war dann dieses Aikidotraining, was Osensei zeigte, nicht sehr langweilig?

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