Aikidō, das bist Du …


Thoams hört dem Interview mit Watanabe Sensei zu …

Aikidō, das bist Du …

So fängt ein Eintrag meines Notizbuches mit Erinnerungen an Watanabe Nobuyuki Sensei  vom 19. Mai 2009 an. Und dann folgt:
»Aikidō ist keine Technik und keine Form. Heute wird oft ein bestimmter Stil unterrichtet. Das führt dazu, dass zu viel aufmerksamkeit auf die Technik gerichtet wird. Viele schauen dann auf die Hände, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, wann die Technik beginnt. Und viele bewegen sich im Dōjō ganz anders als außerhalb vom Dōjō. Aber Aikidō ist vollkommen natürlich. Es gibt keinen Unterschied zwischen Bewegungen im Dōjō und außerhalb davon. Beispiel: Ergreifen von einem Kaffeetassenhenkel. Mit ganz weit offener Hand beginnen und dann zunehmend zugehen, damit am Ende der Henkel ergriffen wird. Nicht von Anfang an nur mit zwei Fingern auf den Henkel losgehen.«


In meinem Beitrag zu dieser Kolumne im Herbst 2017 schrieb ich darüber, was ich mit Anfängern in der ersten Stunde übe. So mache ich es auch heute noch: Den ersten Kontakt nutzen, um die Balance zu brechen, jap. Kuzushi, eine gute Haltung einzunehmen und damit die eigentliche Aikidō-Technik vorzubereiten. Diese ist eine Folge dieses Anfangs und nicht selbst der Anfang. Eigentlich kann man zu Beginn der Begegnung nicht wissen, welche Technik sich anbietet und die Du dann tatsächlich auch machst. Es geht nicht darum, so schnell wie möglich eine vorbestimmte Technik auszuführen.


Vor ein paar Wochen war Lia Suzuki Sensei aus Los Angeles bei uns zu Gast. Sie betonte in ihrem  Unterricht immer wieder, dass Aikidō Kommunikation ist. Ein körperliches Gespräch zwischen zwei Menschen. Kein Monolog sondern Zuhören, Eingehen auf die »Argumente« des Anderen, eigene Beiträge, den Anderen zu Wort kommen lassen. Ich finde diese Metapher sehr überzeugend und hilfreich.

Mit unserem Kata-basierten Training kommt man aber nicht so schnell darauf. Das liegt meines Erachtens daran, dass Du von Deiner Lehrerin gesagt bekommst, welche Technik für welchen Angriff geübt werden soll. Du weißt also das Ergebnis Deiner Bewegung im Voraus. Die Tendenz ist, dass Du so schnell wie möglich dieses erreichen willst. Also wenn Shihō-nage aus Katate-dori Ai-hanmi angesagt ist, dann greifst Du so schnell wie möglich nach dem Arm Deiner Partnerin, um darauf Shihō-nage anzuwenden. Wie wäre es denn, erst einmal zu schauen, wie sich »Euer Gespräch«, »Eure Bewegung« entwickelt. Vielleicht stellt sich heraus, dass Shihō-nage kein guter Abschluss »Eures Gespräches«, »Eurer Begegnung« ist.

Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, wie man dahin kommt, ein Gespräch, eine Begegnung mit  offenem Ausgang zu führen. Dabei ist doch klar, dass in einer Kampfsituation der Ausgang offen  ist. Wie die Geschichte von David und Goliath zeigt, ist nicht automatisch der Stärkere der Gewinner oder Sieger. Möglicherweise erleben wir aktuell so eine Situation in der Ukraine. Das wäre nicht das erste Mal. Unsere Menschengeschichte ist voll von solchen Entwicklungen. Doch
kann man das trainieren?


In vielen Kampfsportarten wird viel Wert auf Sparring gelegt. Für mich ist das sehr ähnlich zum Kata-Training in den japanischen Kampfkünsten und insbesondere zum Randori im Aikidō. Es soll Dich dazu befähigen, in einem echten (Wett-)Kampf Gewinner/Sieger zu sein. Die Idee ist, von  anfänglich sehr kontrollierten Standardsituationen zu immer freieren Kampfähnlichen zu  kommen. Dabei gelten eigene Regeln, die zwingend eingehalten werden müssen, um die  Verletzungsgefahr zu minimieren. Tatsächlich gilt das dann auch für einen Sportwettkampf. Es gibt Regeln, einen festgelegten Ort und eine Uhrzeit, zu der der Wettkampf stattfindet, Dein  Gegner ist Dir meistens schon vorher bekannt und vor allem gibt es einen Schiedsrichter, der  darauf achtet, dass alle Regeln eingehalten werden, bei Regelverstoß den Kampf unterbricht ggf. Strafen vergibt, Anfang und Ende des Kampfes bestimmt und am Ende entscheidet, wer der Gewinner ist.


Das Problem damit hat aber schon Platon benannt: »Was Du brauchst, um den Lorbeer in Olympia  zu gewinnen, brauchst Du nicht auf dem Schlachtfeld.« Die Athener zu seiner Zeit waren davon überzeugt, dass Olympia-Gewinner gute Feldherren seien. Ähnlich wie in der Sowjetunion gute  Schachspieler als gute Militärstrategen galten. Während in Sparta die Teilnahme an Olympia ganz im Sinne von Platon skeptisch gesehen wurde. Wenn Du einen stark geregelten Kampfsport  trainierst, dann wird Dich die Wirklichkeit eines echten Kampfes wahrscheinlich sehr überraschen. In der Antike wurde versucht, mit dem sogenannten Allkampf, griechisch Pankration, so dicht wie  möglich an die Wirklichkeit eines offenen, ungeregelten Kampfes zu kommen. Es war nur verboten  zu beißen oder in die Augen zu stechen. Der Ort und die Ausstattung des Kampfplatzes waren festgelegt, aber nicht die Dauer des Kampfes. Der Kampf wurde nur durch K.O., Aufgabe oder Tod  entschieden. Das heutige Mixed Martial Arts kommt dem am Nächsten.


Was ist mit Aikidō? Was üben wir da eigentlich? Und wie? Wann wissen wir, dass wir auf einem guten Weg sind, gute Aikidōka zu werden?


Fangen wir von vorne an. Aikidō ist eine japanische Kampfkunst. Unabhängig davon, wie wir Aikidō  charakterisieren, lautet der Ausgangspunkt »Kampf«. Üblicherweise endet ein Kampf mit einem  Sieg oder einer Niederlage, es gibt Sieger und Verlierer. Üblicherweise ist der Verlierer der Gnade  des Gewinners ausgeliefert, d.h. dieser bestimmt, was mit dem Verlierer geschieht. Der übliche Weg,
um sich auf einen körperlichen Kampf vorzubereiten besteht darin, zu lernen Schmerz auszuteilen  und Schmerz zu ertragen. Schmerz austeilen erfolgt mithilfe von sogenannten Techniken. Schmerz  ertragen wird durch Abhärtung erlernt. Je besser Du darin bist, mehr Schmerzen auszuteilen und  Schmerzen zu ertragen als Andere, desto größer Deine Chancen in einem Kampf Gewinner zu sein. Als entscheidend wird aber die Beherrschung der Techniken gesehen.

Da der menschliche Körper bei allen Kampfkünsten derselbe ist, scheint es mir sehr plausibel zu sein,  dass im Laufe der Jahrtausende sämtliche sinnvollen, das heißt effektiven und effizienten, Techniken  entsprechend der Biomechanik unseres Körpers entwickelt wurden. Daraus folgt, dass die  Aikidō-Techniken an sich nichts Besonderes darstellen und in der einen oder anderen Form in anderen Kampfkünsten vorkommen. Es gibt eine antike griechische Skulptur von Ringern, die so etwas wie den Abschluss von Sankyō zeigt (nächste Seite).

Das Üben und die Beherrschung der Techniken bildet in allen Kampfkünsten einen großen Teil des Trainings. Bei einigen gibt es Wettkämpfe, bei denen die Ästhetik und die Choreographie von Techniken gezeigt und bewertet werden. Aber normalerweise werden nur »Treffer« gezählt, Würfe oder zwingende Haltetechniken und so etwas wie »beide Schultern berühren den Boden«. Die  Wirkungen einer Technik stehen im Vordergrund. Tatsächlich ist es aber so, dass wir  Energieeffiziente Techniken als besonders gut oder sogar ästhetisch empfinden. Akrobatik honorieren wir allerdings nur, wenn sie zur Effektivität beiträgt. Sie spielt aber bei Solo-Choreographien eine wichtige Rolle.


Für mich ist der entscheidende Unterschied zwischen Aikidō und anderen Kampfkünsten der  Beginn, der Eingang, der dann zu einer Technik führt. Nehmen wir als Beispiel Boxen. Dort heben beide Kämpfer ihre Fäuste ungefähr auf Augenhöhe, als Rechtshänder mit der linken Faust näher  zum Gegner (Linksausleger) und der rechten Faust als Schlaghand. Beide versuchen, die Deckung  durch die Führungshand zu durchbrechen, um dann die eigene Schlaghand einzusetzen. Die Körperhaltung und vor allem die Arm-Handhaltung bestimmen wesentlich die Techniken, die  sinnvoll ausgeführt werden können und wie man dahin kommt. Meistens erfolgt ein gegenseitiges »Abtasten«, um Schwächen zu entdecken.
Beim Aikidō gibt es so etwas Ähnliches, aber es kann entweder der linke oder der rechte Fuß vorne stehen und die Hände befinden sich geöffnet über dem jeweils linken oder rechten Fuß (jap. Hanmi).  Dann aber unterscheidet sich Aikidō von anderen Kampfkünsten. Es gibt kein Abtaste …


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