Heinrich der Vierte, der gebannte Kaiser, geht nach Canossa. Er geht im härenen Hemd, dem klassischen Büssergewand. Er geht zum Papst, der ihn gebannt hat, denn er muss diesen Bann unbedingt loswerden. Mit dem Bann steht, verliert er sonst die »magische Kraft« des Kaiserstatus. Er hat dann zwar noch immer die irdische Kraft seines Standes, des Herzogtums, aber das genügt nicht. So steht er nun da, im Büssergewand und »zwingt« den Papst dadurch zum Ritual der Vergebung. Für den Papst kann es nicht schlimmer sein, denn er muss, wider sein eigenes Empfinden, dem Gesetze Jesu folgen, sich beugen und vergeben – obgleich er den Kaiser hasst. Das Ritual ist für beide Seiten zwingend. Auch wenn sie sich gegenseitig hassen, innerlich, geistig, im Kampf, auf Leben und Tod.
So wie wir heute die Bedeutung Canossa benützen/darstellen – dieses auf dem Bauche kriechen und um Verzeihung bitten – ist völlig falsch. Es war eine meisterliche Leistung Heinrichs des Vierten, ein staatsmännischer Akt auf höchter Diplomatieebene (würde man heute sagen) – Nutzen- und Wertschöpfung eines vorgeschriebenen Rituals, wichtiger als ein paar Divisionen ins Feld zu schicken!
Die Religion hat für viele ihre »orientierende Kraft« verloren, wie die Ideologien auch. Diese Ritualisierung, die ehedem für das Leben, für die Tagesabläufe, für die Zeiteinteilung, für den täglichen Lebenssinn aus den Ideologien und Glaubenseinstellung kamen, übernehmen heute die Medien, z.B. das Fernsehen. Wenn man die Nachrichten oder die sogenannten Tagesthemen analysiert, dann »rollen die Rituale« der gesamten Weltordnung quasi an uns vorüber. Überall passiert Schlimmes, doch wir, wir sitzen zusammen, uns kann nichts passieren. Es gibt da jemand, der uns »an die Hand nimmt« und uns durch dieses Chaos führt: Der Nachrichtensprecher, ein Vertrauter. Er kommt jeden Tag, um die gleiche Zeit und führt uns sicher durch diese Welt – die Gemeinde ist versammelt. Das Medium selbst ist das Ritual. Ohne dass die meisten sich dessen bewusst werden, nehmen wir alle an einem hochintegrativen, stabilisierenden, sozialen (oder sozialisierenden?) Ritual teil. Und meinen, in Wirklichkeit nur ein paar Informationen abzuholen, um »up to date« zu sein, auf dem laufenden.
Mittlerweile stellen wir das Individuum an die Spitze – lassen es seine Meinungsvielfalt pflegen, die auch jedem sagt: »Du sollst dich entfalten« – offen sein, gegen die anderen. Diese Macht räumen wir dem Herrscher ein. Trotz aller Aufgeklärtheit wird dieses Verhalten, das wir aus früheren Jahrhunderten kennen, fortgesetzt. Es bleibt quasi wirksam. Dass es wirksam bleibt, muss ja damit zu tun haben, dass die heute befreiten Individuen immer noch... – was denn?... Interesse oder Freude daran haben? Ich kann doch nicht annehmen, dass sie einfach nur gehorsam sind und sich dies alles gefallen lassen. Wahrscheinlich ist es ein Bedürfnis, sich Ordnungssystemen zu unterordnen, durch fest geschriebene Abläufe. Stilisierte Vorgänge, die vereinfacht sind und die offenbar Halt geben.
Wie passt das zusammen? Mit einer Gesellschaft, deren Konzept eigentlich schon lange das stolze, starke Individuum entwickelt hat? Es muss wohl so sein, sonst geht das stolze starke Individuum verloren, in der Beliebigkeit. Die Beliebigkeit ist schön, befreit, aber gleichzeitig macht sie Angst. Wir finden bei diesen Ritualen permanent diese Äquivalente. Wir leben das »anything goes«, wir haben aber gleichzeitig das Bedürfnis uns in Führungsschienen zu begeben, in denen wir uns dann fangen, in denen wir wandern können, so wie es sich mit einem Krückstock geht. Es teilt ein, ordnet die menschlichen Beziehungen. Es ist wie eine Metapher. Wir sind, im Verhältnis zu früheren Jahrhunderten ungeheuer befreit, wir sind sozusagen omnimobil, können innert Stunden unvorstellbar grosse Strecken überwinden, um das Frühstück in Paris, das Mittagessen in Rom und das Diner à deux in Budapest einzunehmen, oder wo auch immer. Das Auto sowieso und selbst das Zweitauto sind Selbstverständlichkeiten. Wir haben Freiheiten, von denen unsere Vorfahren nicht mal die Begriffe kannten, geschweige denn die Tatsache, dass ein Bedürfnis danach bestehen könnte. Gleichzeitig hat es noch nie so viele Gebote und Verbote gegeben, die alles regulieren. Warum wohl – genau diese Freiheit der absoluten Mobilität (aber nicht nur, auch die gewachsene Menschheit) – verlangt danach. Ansonsten würde das Chaos herrschen. Da hat man genau, was jedem einzelnen im täglichen Leben in seinem Kopf oder in seiner Seele vorgeht, im Strassenverkehr dargestellt. Die individualisierte Gesellschaft ist gleichzeitig auch eine Inszenierungs-Gesellschaft – ein permanente Performance. Weil es den Individuen selbst überlassen ist, was sie sein möchten, müssen sie durch eine Inszenierung des Verhaltensstil, der Verhaltensweise, durch ihre Kleidung zeigen, was sie sein wollen. Wem sie zugeordnet sein möchten, wem nicht. Diese Beliebigkeit, das abbrechen von Traditionen die ein Zwangscharakter haben, gerade ein hochspielen von Inszenierung von Ritualisierung bedeuten.
Kommunikation ist alles!!!
Aus Wien erhielt ich für die letzte Ausgabe
einen Artikel, der aber nicht aus der Feder
der Senderin stammte, sondern von einer Verfasserin, die nicht genannt werden wollte...
So wurde Margrit Melcher als Verfasserin des Artikels genannt, was sie aber nicht ist – es tut
uns leid, dass dieser Wunsch nicht so offen-
sichtlich bis zur Redaktion durchdrang. Entschuldigung.