Angriffe und Ukemi im Aikido

Prof. i.R. Dr. Thomas Christaller
Prof. i.R. Dr. Thomas Christaller

Es gibt inzwischen tausende von Büchern über Aikido. Vom Gründer selber, seinem Sohn und Enkel, von etlichen direkten Schülern von Ueshiba Osensei. Und auch von Nicht-Japanern. In all den Büchern, die ich kenne, wird anhand von Fotos gezeigt, wie eine Aikido-Technik funktioniert. Dabei sehen wir einen, der angreift, uke, und denjenigen, der die Technik durchführt, nage oder tori. Während die Aikido-Technik im Text und den Bildunterschriften ausführlich erläutert wird, genügt zur Beschreibung des Angriffs oft ein Satz. Die Autoren gehen davon aus, dass dies ausreicht, um zu verstehen, wie genau der jeweilige Angriff abläuft. Sehr selten habe ich es erlebt, dass in einem Dojo das Angreifen geübt wird. So erscheint es wenig verwunderlich, dass es meines Wissens nach nur ein einziges Buch gibt, in dem die Angriffsformen im Aikido detailliert erläutert und vor allem erklärt werden. Es handelt sich um das Buch von Stefan Stenudd "Attacks in Aikido" http://www.stenudd.com/aikido/attacks-in-aikido-book.htm. Auf der anderen Seite habe ich von vielen hochgraduierten Lehrern gehört: Richtig angreifen! Ohne einen richtigen Angriff könne man keine guten Aikido-Techniken durchführen oder sie sind unnötig. Und vor allem: Man kann nicht richtig Aikido üben.

Woran liegt dieses Missverhältnis im Erlernen von Aikido zwischen Angriff und - ich nenne es einmal so - Verteidigung? Warum wird auf das Erlernen der Aikido-Techniken so viel Aufmerksamkeit gelegt aber nicht auf die Angriffe, zu denen diese passen sollen? Mir scheint, es gibt zuerst einen historischen Grund. Viele Schüler von Ueshiba o'sensei hatten schon ein jahrelanges Training in einer anderen Kampfkunst, bevor sie zu ihm kamen. Einem hochgraduierten Kendo-ka musste man nicht beibringen, wie man angreift. Genau so wenig einem 4. oder 5. Dan im Judo. Diese Schüler wollten lernen, wie Ueshiba o'sensei mit ihren Angriffen, die sie konnten, umging. Später, als Aikido seinen Weg außerhalb Japans beschritt, wurde es oft so erklärt, es sei so wie Judo, nur ohne Angriff, ein reines Selbstverteidigungssystem. Es gibt nach meiner eigenen Erfahrung nicht wenige Aikido-Dojos, die mit großer Ablehnung reagieren, wenn jemand richtig angreift. Damit meine ich, wissen, wie angegriffen werden kann und dieses auch technisch können. Dann interveniert irgendjemand und wenn man glücklich ist, dann beschränkt sich das darauf, dass man gezeigt bekommt, wie man im Aikido angreift. Ich habe oft genug Teilnehmer in meinen Unterrichtsstunden, die aus anderen Kampfkünsten kommen und über solche Angriffstechniken den Kopf schütteln. Sie halten deshalb Aikido oft nicht für eine Kampfkunst sondern für Budo-Tanz. Verabredete gemeinsame Bewegungen, die sehr schön aussehen. Aber kann nach ihrer Erfahrung in einer einigermaßen realistischen Kampfsituation nicht funktionieren.
Das scheint mir sehr schade zu sein, denn Ueshiba o'sensei war in seiner Zeit berühmt dafür, dass er mit richtigen Angriffen umgehen konnte. Oder anders gesagt, dass sein Aikido genau für solche Angriffe gedacht war. Wenn das so ist, stellt sich die Frage, warum spielt angreifen können eine so geringe Rolle und wird sogar häufig als zu aggressiv für den Geist des Aikido eingeschätzt. Alle Interviews mit Schülern von o'sensei, die ich gelesen habe, zeigen deutlich: Sie konnten entweder schon angreifen, bevor sie mit Aikido angefangen haben, oder haben es von solchen gelernt, die es konnten. Und o'sensei hat erwartet, richtig und ernsthaft angegriffen zu werden. Er konnte wohl ziemlich sauer reagieren, wenn jemand das nicht tat.

Nun könnte man argumentieren, ja, damals, da gab es auch noch Kämpfe. Aber heute leben wir in friedlicheren Zeiten. Deshalb geht es im Aikido mehr um die mentale, geistige, spirituelle Persönlichkeitsentwicklung und nicht mehr darum, ob eine Technik bei einem tatsächlichen Angriff funktioniert. Aber dann stellt sich für mich die Frage, wie kann ich wissen, ob meine Aikido-Bewegungen gut oder richtig sind? Was sind die entscheidenden Kriterien dafür? Eine Antwort, die ich gar nicht so selten dazu höre lautet: Die harmonische Bewegung mit dem Anderen zusammen. Und was unterscheidet dann Aikido tatsächlich vom Paartanzen? Dass keine Musik gespielt wird? Warum sollte der Uke fallen? Damit der Tori möglichst gut aussieht? Oder der Uke? Damit ich weiß, ob meine Aikido-Techniken Sinn machen, brauche ich einen uke, der gut angreifen kann, der weiß, wie ein wirkungsvoller Fauststoß ausgeführt wird und er oder sie den auch beherrscht.





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