Cornelia Remmers

Ich ging nach Frankreich um Aikido zu lernen, im August sind es 20 Jahre …


Cornelia während des Gespräches mit Patrick Bénézi

AJ: Warum bist du in Frankreich?

… um Aikido zu lernen. Ich ging nach Frankreich um bei Christian Tissier tiefer ins Aikido einzusteigen – im August werden es 20 Jahre. Als ich ankam hat Christian mir angeboten, meine beiden deutschen Dangrade in dem französischen Verband anerkennen zu lassen. Das war ein Zeichen dafür, dass er mich als seine Schülerin annahm. Patrick Bénézi kannte ich auch schon von Lehrgängen, die ich in Deutschland und Frankreich besuchte – er unterrichtet Donnerstags im Dojo von Christian. So lernte ich auch bei ihm.

AJ: Ist das nicht ein gewagter Sprung ins kalte Wasser?

Nein, natürlich wusste ich nicht was mich erwartete, das schon. Aber das Aikido hatte für mich eine Rolle, ähnlich wie für Patrick. Vielleicht nicht ganz so weit wie für ihn – ich wollte nicht professionell werden. Unterrichten schon, aber das Unterrichten bringt mir persönlich nicht genügend, weil, wie Patrick eben sagte, Schüler sind oft in einer Rolle, in der sie alles akzeptieren – dies erlebte ich als Lehrer auch – das ist etwas, was mich nicht ausfüllte, das suchte ich nicht.
Aber ich bin aus einer tiefen Leidenschaft hier her gekommen. Im ersten Jahr habe ich nur Aikido gemacht – ich hatte bereits zirka zehn Jahre Aikido in Deutschland hinter mir. Trotzdem war auch ich täglich drei Stunden auf der Matte.


AJ: Hast du bei Christian ein anderes, interessanteres Aikido gefunden? Ober was war deine Vorstellung?

Ja, es war intensiver, der Kontakt zum Partner war „voller“. Man bewegte nicht an der Peripherie des Partners, sondern bewegte seine Mitte. Das „sich Spüren“ in der Beziehung zu seinem Partner hatte eine neue Dimension bekommen. Außerdem kam der martialische Aspekt dazu. Überhaupt kann man sagen, dass die Franzosen sehr viel an der Pädagogik gearbeitet haben.

AJ: … würdest du sagen, dass eine ausgefeilte Pädagogik in Deutschland fehlt?

Das Unterrichten damals bestand hauptsächlich durchs Vormachen, der Schüler schaute der Demonstration zu und versuchte das Gesehene umzusetzen. Wenn man nach vorne kam als Uke, konnte man die Bewegung auch spüren. Doch allgemein gab es sehr wenig Erklärung. Als ich meine ersten Lehrgänge mit Franzosen machte, Christian Tissier, Patrick Benezi und Franck Noël, die ich in Köln und in Hamburg auf Lehrgängen besuchte, war der Unterschied flagrant.
Es gab Übungen um bestimmte Sequenzen der Bewegung zu lernen, man bekam technische Aspekte erklärt, sie zeigten auch zum ersten Mal die Bewegung des Ukes. Franck Noël und Patrick Benezi sprachen auch über die Prinzipien des Aikidos, die der Schüler in seine Praxis umsetzen muss. 

AJ: Kannst du mir diese Prinzipien erklären?

Man könnte sie in drei Kategorien unterscheiden, die spirituellen und die mit dem Verhältnis oder in der Beziehung zum Partner stehende Werte (Shin), die technischen Prinzipien (Gi), und die Prinzipien der körperlichen Qualitäten (Tai). Häufig sind sie aber untereinander vermischt und nicht so genau abtrennbar. Wenn man in Frankreich die Aïkidolehrer-Ausbildung macht (man muss ein staatliches Diplom, haben um professionell zu arbeiten) [anm.d. Red.: dies wiederspricht  europäischen Gesetzen. Frankreich hat bereits einige Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof verloren], wird darauf Wert gelegt, diese Qualitäten im Unterricht anhand des Übens zu verdeutlichen. Vor allem die technischen Prinzipien werden oft angewendet, man spricht von der Körpereinheit zum Beispiel, oder auch der Vertikalität, dem Prinzip des Irimis und der Antizipation, der Konstruktion der Begegnung mit dem Partner (Délai) [anm.d.Red.: Zeitrahmen … ‚sans délai‘ unverzüglich], la „non-violence“ [anm.d.Red.: Gewaltlosigkeit] usw. Bei den Danprüfungen (ich bin seit fast 15 Jahren in den Jurys tätig für die erste und zweite Dan-Prüfung), wird vor allem die technische Konstruktion mit ihren drei Phasen und das Prinzip der Integrität bewertet. Wichtig ist nicht das theoretische Wissen, sondern das Erkennen und Umsetzten der Prinzipien beim Üben. Es gibt sehr viele unterschiedliche Stile und Schulen auf der Welt, der gemeinsame Nenner sind die Techniken (Shihonage, Ikyo et cetrera) und die Prinzipien in deren Respekt sie ausgeführt werden.

AJ: Du erwähntest den martialischen Aspekt – ist Aikido eine Kampfkunst? 

Ja ganz klar, das ist genau der richtige Begriff. Kampfsport wäre weniger treffend gewesen. Morihei Ueshiba, sein Begründer, war sogar ein richtiger Krieger. Er hat die Prinzipien verschiedener Kampfarten studiert und weiterentwickelt. Bei Ueshiba war die spirituelle Erfahrung auch sehr im Vordergrund, sie war sogar momentan noch ausgeprägter als das Üben selbst.
Alle Aikido Bewegungen entstehen aus einem Angriff (z. B. das Handgelenk des Partners greifen) und dem „Verteidigen“: die Bewegung umzuleiten und zu dominieren. Es ist kein Kampf, sondern ein ritualisierter Ablauf, der ermöglicht, körperliche und geistige Qualitäten zu entwickeln und zu verfeinern. Wenn man wirklich aufmerksam und mit Intelligenz übt, hat man gute Voraussetzungen im Leben, in allen Situationen die „Kampf“ im weitesten Sinne implizieren, seine Mitte zu halten. Doch leider ist man als Schüler häufig nicht wirklich präsent, und oft lässt man auch seine Intelligenz draußen in der Umkleidekabine. Es geht nicht nur darum etwas nachzumachen sondern es zu verstehen, die Prinzipien zu verinnerlichen und anzuwenden.


AJ: Da klinkt wieder die Frustration deiner eigenen Lehrertätigkeit heraus? Was außer dem eben Gesagten störte dich noch?

Ich finde es störend, wenn man total in einem System eingeschlossen ist, in einer Form zum Beispiel. In Frankreich gibt es eine Unmenge von Stylen, wie auch in Deutschland. Christian Tissier könnte man als direkten Yamaguchi-Schüler bezeichnen, genau wie Franck Noël und weiter entfernt Patrick Benezi. Auch Gerd Walter in Deutschland hatte zeitweilig bei Yamaguchi trainiert. Jeder interpretiert das Gelernte anders und entwickelt sich weiter. Style oder Schulen entstehen. Und leider häufig ein Elitesystem. Es ist natürlich sehr wichtig als Schüler, sich zu identifizieren, einer Gruppe anzugehören, einem Lehrer oder Meister zu folgen. Der Lehrer hat meiner Meinung aber die Aufgabe, Offenheit in seinen Schülern anzuregen. Neugier ist die beste Grundlage zum Lernen! Aber manche Lehrer produzieren ein exklusives System, die anderen Lehrer oder Style werden degradiert. Es kann sogar vorkommen, dass die Schüler vernachlässigt werden von ihrem Lehrer, weil sie woanders einen Lehrgang gemacht haben. Ich finde das sehr schade und kontraproduzierend. Aikido ist ein Weg, und manchmal muss man auch neue Routen aufsuchen und explorieren. Ein Schüler ist nicht Instrument oder Eigentum des Lehrers, man kann treu seinem Lehrer sein und gleichzeitig auch andere Lehrweisen und –style anerkennen.
Aber es sind nicht nur die Lehrer, die so ein exklusives System produzieren. Viele Schüler sind borniert. Sie meinen, dass ihre Schule …


Möchten Sie gerne mehr lesen – wir veräußern das AJ:
https://www.aikidojournal.eu/Deutsche_Ausgabe/2015/

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