Gespräch mit Manfred Reil aus Freiburg.

Ich werde hoffentlich irgendwann an den Punkt kommen, dass ich die Prinzipien des Aikidos verinnerlichen und mich nach diesen bewegen kann. Aber selbst dann kann ich noch nichts mit ihnen anstellen. Sie sind mir immer noch etwas Fremdes. Erst wenn ich beginne, zu spüren, zu sehen…, dann kommt der lange Weg des Improvisierens, der Selbstfindung.


Manfred Reil, während des Gespräches im Château du Blat, Beaumont.

Manfred, im Jahre 1999 hast Du schon
einmal einen Artikel zur Veröffentlichung ans Aïkidojournal gesandt. Heute bist Du mit Deiner vierköpfigen Familie hier, um in der Sommersonne Euren Jahresurlaub zu verbringen.

Ja, das damals war eigentlich nur ein Leserbrief.


Hier habe ich den Leserbrief, er lautet: »Gedanken über die Wandlung des Weges«. Mir fiel darin der Abschnitt auf, in dem Du daraufhin weist, dass Gozo Shioda Sensei (Anm. der Red.: Begründer des Yoshinkan Aikido) nach dem Krieg O Sensei quasi vorwarf, dass er die Schüler mit seiner »neuen Methode Aikido« überfordere, weil er ihnen die Möglichkeiten, die notwendige Reife zu entwickeln, mit diesen neuen Techniken nehmen würde…

Wenn wir das Lebenslicht erblicken, dann lernen wir auch nicht gleich, zu laufen. Lebenswichtige Dinge wie z.B. die Nahrungsaufnahme sind dann massgebender. In diesem Fall könnte man von einer natürlichen Abfolge sprechen. Im Erlernen des Aikido gibt es diese Abfolgen auch.

Wir Westler möchten gerne wissen, was wir tun, wenn wir denn schon etwas tun. So störte mich in meinen Anfangsjahren, dass ich nun mit dieser mir sehr fremden japanischen Lernmethode konfrontiert war, ganz nach dem Motto: »Schau zu und mach es möglichst genau so.« Für mich ist dies ein Schritt zurück ins Babyalter, zumal, wenn es auf die Frage »warum« keine Antwort gibt.

Dem Aikido liegt die Selbstverteidigung zu Grunde. Heutzutage gerät dies sehr oft in Vergessenheit. Viele Lehrer wissen nicht mehr, in welche Phase etwas gehört! Vergleich: Müssen wir noch gefüttert werden, lernen wir laufen, sprechen, oder sind wir schon weiter.

Ich bin gerne bereit, nachzuahmen, was mir »meine Eltern« vormachen. Doch wenn ich Fragen habe, erwarte ich Antworten. Auch wenn ich es noch nicht ausführen oder begreifen kann.
Ich werde hoffentlich irgendwann an den Punkt kommen, dass ich die Prinzipien des Aikidos verinnerlichen und mich nach diesen bewegen kann. Aber selbst dann kann ich noch nichts mit ihnen »anfangen«, sie sind mir immer noch etwas Fremdes. Erst wenn ich beginne, darin etwas zu spüren, etwas zu sehen, dann kommt der lange Weg des Improvisierens, der Selbstfindung. Deshalb muss ich am Anfang beginnen.

Für bin heute so weit, dass ich sage: »Warte bitte mit Deinen Fragen, fühle hinein in die Form und überlege mit mir, wozu diese Form dient. Es ist nicht unbedingt etwas, was Du auf der Strasse gebrauchen kannst. Aber man könnte damit auch das oder jenes machen… oder nur den Rhythmus des Angreifers stören.«

Ich versuche den Weg zu erklären, weise aber auf die Notwendigkeit der eigenen Erfahrung hin. Denn verbales Lernen ist und bleibt ein »Schmankerl fürn Westler«. Ein Erfühlen muss erfahren werden, »es muss in den Bauch hinein«. So weiss ich heute, dass es für mich mit meinen Einmeterfünfundsechzig sinnlos ist, jemanden von hinten mit einem Würdegriff anzugreifen, der Einmeterachtzig gross ist. Ich werde niemals einen grossen Angreifer mit einem Nikyo zu führen versuchen. Denn je nachdem, wie ich ihn beherrsche, wird er, wenn ich ihn halbherzig herunter geführt habe, noch immer »über mir stehen«, bei meiner Grösse. Das sind Erkenntnisse des Lernens und Erfahrens. Deshalb unterstütze ich die Aussage von Shioda Sensei: »Erst die Basis, der Kampf und die Selbstverteidigung, dann von mir aus die weitere, höhere Entwicklung.«


Hat sich an dieser Einstellung von Shioda im Yonshinkan etwas geändert?

Das kann ich Dir nicht sagen, weil ich die Gruppe nicht kenne. Lediglich zwei Bücher habe ich darüber gelesen. Bekannt ist mir nur, dass die Füsse sehr stark nach aussen gestellt sind… Aber ob das zu mir passt, das bezweifele ich. Auch lehne ich kategorische Festlegungen ab. Mache es mal, fühle hinein, was fühlst Du, das ist für mich o.k.

Ich schätze an diesen Büchern, dass ich ihnen nachschlagen und Dinge herausholen kann, die man heute nicht mehr sieht. Bevorzugt man eine härtere Gangart, dann ist dies durchaus empfehlswert. So wie z.B. mit dem shiho-nage »herunterführen und einen Schlag zum Gesicht«. Ansonsten sehe ich die Unterschiede als nicht so gravierend an. Vor allem, wenn man das Buch sieht, dass Shioda Senseis Sohn herausgebracht hat.


Wie lange machst Du jetzt Aikido, wo hast du angefangen?

1991 habe ich in Tübingen begonnen, bei zwei Lehrerinnen. Der Grund war für mich, dass ich das Fallen so toll fand – »nicht auf die Schnauze fallen, sondern fallen und gleich wieder hochkommen«. Das hat mich am Anfang auch gehalten.

Man kann solche Themen auch gleich auf den Menschen beziehen, ich sehe dies heute immer wieder bei meinen Schülern. So stellte sich bei mir schnell heraus, dass ich ein guter uke bin, konzentriert angreife und wenn notwendig, dann gehe ich auch mit. Als Nage habe ich da so meine Schwierigkeiten.
Das ist auch mein Lebensthema. Ich bin anpassungsfähig, ich kann angreifen, aber ich kann mich nicht unbedingt gut verteidigen.

Jeder der in sich hineinhört, erfährt durch Aikido, wo er seine Schwerpunkte und wo er viel zu lernen hat.

Ich habe ein Jahr lang wing tsung geübt, danach konnte ich dieses »reindreschen« nicht mehr ertragen. Dazu bin ich nicht der Typ. Auch reicht es mir zu wissen, was ich mit welcher Aikidotechnik machen kann, um mich zu verteidigen. Ich möchte nicht dauernd mit einer inneren nervösen Spannung durch’s Leben gehen.

Zum Glück ist der Selbstverteidigungsaspekt im Aikido nicht mehr massgebend, denn es würde sicherlich viele erschrecken, wenn man erst einmal »reinschlagen« müsste, um dann vielleicht… So reicht es heute aus, den der es ein wenig sportlicher mag, an der sportlichen Haltestelle abzuholen, und den, der die Selbstverteidigungsphase hat, an der Selbstverteidigungshaltestelle aufzupicken, so wie ich wegen dem schönen Fallen auf- bzw. eingestiegen bin. Man kann es nicht jedem recht machen, aber Aikido hat ein Potential, das sehr tief und weit, ja viel tiefer und weiter als bei anderen Budoarten geht.


Wenn man mit einer Gruppe arbeitet, mit welcher man darauf eingehen kann – wenn sie es überhaupt annimmt…

Ja, dieses Glück habe ich, weil mein Co-Trainer es eher selbstverteidigungsmässig sieht. Ich suche inzwischen mehr die Prinzipien, ich bin zwar noch nicht so ganz weg von der Selbstverteidigung, aber mich fasziniert mehr das Bewegungsprinzip. Allein schon wie der Partner in die Bewegungsprinzipien mit aufgenommen wird.

Das ist das Tolle am Aikido. Da hört es auf, gewisse Formen zu erfüllen, denn die ergeben sich von selber, aus diesem Zusammenfliessen. Dieses Handeln, quasi ohne zu denken, macht mir sehr viel Spass. So hat unsere Gruppe das Glück, zwei Wege gehen zu können ohne gross suchen oder wechseln zu müssen. So oder so – beide Formen sind gut.


»… um nicht auf die Schnauze zu fallen«!

Ja, die Kontrolle, darum liebe ich ja Aikido auch so sehr… (lacht lange). Es macht alles so offensichtlich. Wenn man lange genug übt, ergibt sich vieles von selbst. Anfänger, fortgeschrittener Anfänger, beginnender Lehrender. Dass ist doch einfach toll. Wenn man sich erinnert, wie man selbst da gestanden ist, mit Berührungsängsten. Wie man niemanden an sich heranliess, weil man »die Kontrolle nicht verlieren wollte«… – dann das dynamische Spiel. Zwar hat man die Kontrolle noch, aber die macht steif, ja, gar unfrei. Es geht hier eher um dieses »den anderen mit hineinnehmen«, ein Kräftespiel zuzulassen, um dann wieder zu kontrollieren.

Ich hatte mal einen Lehrer, der hat das ganz einfach ausdrückt: »Ich sage jetzt, es geht um diesen Angriff und diese Technik!« Aber letztlich bin ich frei, ich kann mit meinen beiden Händen und meinem Körper alles tun, was ich will. Ich gehe in den Angriff hinein oder weiche ihm aus… Wenn es nur harmonisiert! Ich muss nicht unbedingt diese Technik machen…

Im Gegensatz dazu musste ich bei meiner letzten Station erleben, dass man in seinen Körper hineinzupacken hat, was gesagt wurde. Und schlimmer, vor allem hatte auch der uke das zu tun, was von ihm verlangt wurde… kein Wunder das man heute über Aikido so viele Schauergeschichten erzählt. Aber lassen wir dieses Thema lieber.

Ich muss nur erkennen was richtig ist, dann ist Aikido ein wunderbares System. Ich kann mich als Mensch über die Bewegung erfahren und mich entwickelen. Langsamer, schneller, mit Umwegen, direkt…

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