Francesco Marrella aus Wohlen

Ein junger Italiener kommt in die Schweiz und erlernt Aikido …


Francesco während des Interviews

Herr Marrella, wie sind Sie in die Schweiz gekommen?

Ich bin gebürtiger Italiener, mit 22 Jahren kam ich in die Schweiz, nun lebe ich seit 43 Jahren hier im Kanton Aargau. Ich besuchte damals meinen Bruder, der hier lebte, mein Bruder der in seiner Familie einen tragischen Zwischenfall hatte, ging wieder zurück nach Italien – ich aber blieb hier, was gar nicht beabsichtigt war. Ich fand  schnell eine Anstellung in einer Firma, bei der ich bis zu meinem Rentenalter blieb. So war damals mein junges Leben erstmals in Ordnung, ich fand Freunde und etablierte mich… obwohl ich schon ein wenig traurig war – ich bin Süditaliener, lebte meine letzten fünf Jahre ich Rom, eine Stadt die pulsiert. Hier aber war es früher doch recht ländlich – für einen jungen Menschen mit südlichem Temperament bedrückend.
Doch da war auch ein Drang nach Bewegung, Sport … Dies war die Grundlage zu meinem Aikido-Weg – auch wenn ich erst mit Judo begonnen habe. Ich war soweit, dass ich ohne Sport nicht hier bleiben wollte… So nahm mich einer meiner Bekannten mit zum Karatetraining, was mir aber nicht gefiel. Es ist wohl eine Frage des Typus. Dann wurde ich nach Wohlen in den Judo-Klub zum Judo geschleppt, das gefiel mir. So begann ich 1971 mit Judo. Nach etwas mehr als einem Jahr kündigte unser Trainer einen Aikdoka aus Zürich an, er lud uns ein, an diesem Training teilzunehmen… ich wusste nicht, was Aikido ist. So begann ich 1972 dann auch noch mit Aikido – ich habe dann sieben Jahre von Montag bis Freitag täglich Judo und Aikido trainiert. Als der Trainer aus Zürich mit seiner schwarz/weißen Kleidung ins Dojo kam, das war schon beeindruckend. Für mich als Schneider, dieser Kontrast von Schwarz und Weiß.
Also hatte ich gleichaltrige Freunde gefunden, wir trainierten und verbrachten auch sonst unsere Freizeit miteinander… Das soziale Leben war stabil, das ist für mich wichtig.
1977 kam dann Meister Ikeda, der mich auf ein Neues begeisterte, so hörte ich langsam mit dem Judotraining auf und folgte nur noch Meister Ikeda. Denn dies war eine ganz unerwartete Erfahrung – da war auf einmal ein Trainier, der wie ein guter Freund, wie ein älterer Bruder mit einer sozialen Ader, eine Nähe bot, die ich nicht erwartet hätte. Es wurde mit ihm weiter trainiert. Dadurch war auch eine hohe Motivation da, zumal Meister Ikeda mindestens einmal im Monat jedes Dojo in der Schweiz besuchte – er schaffte einen Zusammenhalt wie in einer Familie. Zumal Ikeda auch eine starke Persönlichkeit besitzt.
Ich bin ihm, wie andere natürlich auch, 25 Jahre gefolgt. Ich persönlich fuhr fast jeden Freitag noch zusätzlich in sein Dojo nach Zürich, um Samstag und Sonntag auch noch seine Lehrgänge, die in der gesamten Schweiz stattfanden, zu besuchen. Dazu kamen noch die Sommerlehrgänge eine, manches Mal auch zwei Wochen, an denen es nur Training, Essen und Schlafen gab…

Warum aber auch noch Aikido zu dem Judo?

Das Aikido hat mir mehr gegeben, ich konnte darin meine gesamte Emotionen ausleben – es passt zu meiner Person, ich finde mich darin wieder. Das Leben ist präsent im Aikido. Judo ist etwas anderes. Wahrscheinlich sind wir Aikidoka ein spezieller Typ. Im Judo ist das Ego zu stark ausgeprägt.

Im Aikido kenne ich das aber auch!

Ja, ich auch, aber das wird im Aikido leichter verarbeitet, ausgeglichen.

Nah, ist das nicht ein wenig blauäugig…?

Durch den permanenten Wechsel mit dem Partner, spielt ein Verlieren oder Gewinnen keine so starke Rolle, wie dies in einer Sportart wie im Judo der Fall ist. Aikido ist für mich sozialer – weil wir zum Beispiel eher gemeinsam einen Weg zur Lösung technischer Probleme suchen. Ich meine, dass sich mehr verbal ausgetauscht, mehr kommuniziert wird. Dadurch ist mehr Respekt füreinander da.

Wenn ich es mir überlege, dann bin ich mit meiner Wahl, dem Aikido zu folgen, zufrieden, das bin ich. Es passt zu meinem Charakter.

Hatten Sie noch andere Lehrer neben Ikeda?

Neben dem Trainer aus Aargau, der nur 1. Dan war, habe ich durch die Reisen zu Lehrgängen in der Schweiz und sonst in Europa viele Meister kennen und schätzen gelernt. Aber meine Linie ist Ikeda geblieben. Obwohl jedes Jahr, Asai, Tada, Fujimoto, Hosokawa usw. in die Schweiz kamen. Jedes Jahr gab es auch einen Winterstage mit Asai, Ikeda und Hosokawa. Bis Hosokawa krank wurde. Am Anfang war auch Fujimoto dabei – aber sie meinen dann selbst, dass sie zu viele Japaner seien, so blieb Fujimoto fern. Dann bedankte sich Ikeda bei Fujimoto, denn dadurch kam der heutige Doshu Wakasensei viermal zu uns …
Das hat Ikeda sehr geschickt gemacht, dass er hier in Zürich, quasi zentral in Europa, einen Stage mit vielen Japanern organisierte, so hatten alle europäischen Aikidoka zirka den gleichen Weg, ob aus Italien, Deutschland oder Österreich… Als dann Hosokawa und später auch noch Ikeda krank wurde, kam für einige Jahre Fujimoto wieder. Jetzt ist nur noch Meister Asai übrig.
Vor fünf Jahren habe ich mir einen Wunsch erfüllt und bin nach Japan geflogen – denn Jahre habe ich darüber nachgedacht, den Ursprung näher kennen zu lernen, die Kultur zu schnuppern… Es war interessant, ja oft überwältigend – die Dojos, die Menschenmassen in Tokio, diese Lichterwelt, die Freundlichkeit …Gut, wir waren nur Touristen, diese Gastfreundlichkeit, dieses Lächeln, das weiß man ja, ist nicht das Lächeln welches wir benutzen – aber in der Fülle eben doch bestechend. Anderseits war es für mich ein bewegender Moment in Tanabe, dort wo Osensei lebte, eine Nacht zu verbringen, den Ort zu besichtigen, zu fotografieren – denn so etwas macht man sicherlich nur einmal in seinem Leben. Dort könnte ich mir eine Wahlheimat vorstellen.
Sind Sie sicher, in einer Kollektivgesellschaft leben zu können?

Hmmm, vielleicht wenn man alleine ist – aber so in der Gruppe, überall wo wir hinkamen, wurden wir sehr freundlich aufgenommen. Ja, überall. Gut, das Alltagsleben sieht immer anders aus, aber ich war überrascht, wie wir aufgenommen wurden. Natürlich, Tokio „mai“ [niemals] – die Stadt ist zu groß, da leidet die Lebensqualität, das ist Stress pur. Keine Kommunikation, jeder lebt mit seinen Kopfhörern – „mai“. Ich hatte das Gefühl, ich lebe dort auf einer Insel – die restliche Welt war sehr weit weg. Die Hierarchie ist sicherlich nicht im Sinne einer Demokratie.

Seit wann geben Sie hier in Wohlen Training?

Ich bin seit über 35 Jahren in diesem Dojo. Seit 25 Jahren bin verantwortlich für das Aikido. In diesen 35 Jahren habe ich noch nie ein Training versäumt – nie. Wir sind vier Trainer in diesem Dojo, wenn ein anderer das Training leitet, dann trainiere ich immer mit. Das gibt eine andere Atmosphäre, als wenn ich nur mein Training gebe und dann, mit einem ciao nach Hause gehe. Nie fehlte ich – es ist wie ein zweites „zu Hause“. In den Sommerferien ist das Dojo geschlossen, dann fahren wir zu Lehrgängen.

Jetzt wo Ikeda nicht mehr hier ist, besuchen leider immer weniger Aikidoka die Lehrgänge – woran das liegt, das weiß ich nicht. Ich verstehe es nicht.

Das Angebot ist zu groß.

Ja, in fast jeden Dojo gibt es mindestens einen dritten, vierten oder fünften Dan, der Prüfungen abnehmen kann, der kompetent ist – also werden keine Lehrgänge mehr besucht, es ist alles im Dojo. Das ist schade, weil ein Stage einen ganz anderen Dialog zulässt.
Die Graduierungen sind auch nachteilhaft, dadurch entstand schon vor einiger Zeit ein auf die Graduierung bezogenes Training statt. Das ist kein Aikido. Aikido ist ein Leben, keine Graduierung, keine Technik, sondern der Weg, das KI.
Wir waren viele Hochgraduierte, die alle prüfungsberechtigt sind, die 6. Dane dürfen bis zum 4. Dan prüfen. Aber nach Qualität wird nicht gefragt – leider lies die Qualität immer mehr nach. In den Prüfungen wird nicht richtig hingeschaut, es kommt kein Hinweis auf eventuelle Fehler – nein, nur „bestanden“. Ich muss gestehen, dass ich keinen Mut hatte zu sagen, hmm, das war nicht gut, weil … So ist die Qualität sehr stark gesunken, trotz der vielen hohen Grade. Zur Ehrenrettung der ACSA muss ich sagen, dass es in Italien auch nicht viel besser ist, sie haben auch ihre Qualitätsprobleme. Durch die Anerkennung im Aikikai ist eine Inflation entstanden. Die Dane werden verschleudert.

Können Sie das KI erklären?

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