Interview mit Kenji Hayashi - Ende 2007 - Teil 1

Mangel an Aufmerksamkeit und die Wichtigkeit der Aufmerksamkeit allem gegenüber, nicht nur dem Aikido – denn letzteres ist eigentlich nebensächlich.

Kenji Hayashi, in seinem Dojo, Hannover.
Kenji Hayashi, in seinem Dojo, Hannover.

Es ist mehr als nur Verwunderung, die in letzter Zeit mein Erstaunen schürt. Denn die Klagen über »ein unzureichendes System«, gar »falsche Lehre«, bis hin zu »fehlende Körperkenntnisse«, nehmen nicht ab. Alles aber ist doch Grundlage des Aikidos, nicht wahr?

In den chinesischen Künsten bilden die Gesundheit und die Kampfkunst eine Einheit. Im Aikido ist das auch zu finden, nur wird es nicht gezeigt; wird der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht, nicht einmal den Aikidokas, den Schülern. Sie hören: »gehe zum Arzt«. Das Wissen scheint versiegt.

Die Zeiten, in denen ein Lehrer auch ein Heilkundiger war, liegen leider auch in Japan lange zurück. Man hat den Körper, der ja auch jederzeit hätte Schaden nehmen können, zur Heilung erforscht. Wie ein Umkehrschluss, erleichterte die Kenntnis des Körpers auch die Schädigung des Feindes.

Ich bin heute der Meinung, das man noch tiefer in die »Basis des Körpers« eintauchen muss, um zu verstehen, wie man ihn richtig benutzen kann.

In meiner Erinnerung sehe ich noch meine früheren Trainingsmethoden – es wurde geworfen und geworfen, man nahm keinerlei Rücksicht auf mögliche gesundheitsschädliche Folgen. Also eher die »harte Schule«, die dann später mit den Worten: »wir damals …« verglorifiziert wird. Ich rede von einer Zeit vor weit über 20 Jahren. Heute ist zu so etwas kein Mensch mehr bereit. Man ist aufgeklärter, die Menschen sind zwar nicht aufmerksamer, aber vorsichtiger, zurückhaltender. Das meine ich zumindest.


Warum aber sind dann Karate- und Taekwando-Dojos voll?

Wir sollten die Quantität nicht überbewerten, irgendwer erzählte mir letzthin, dass auch in Amerika ein Rückgang in den Aikido-Dojos zu verzeichnen sei – vielleicht ist es nur ein vorübergehender Trend. Vieles in unserem Leben unterliegt ja rhythmischen Wellen.

Für mich ist das kein Problem, denn ich mache kein Aikido mehr!
(lacht laut los)


Das Dojo von Meister Tada ist aber sehr gut besucht. Allerdings ist der dortige Unterricht auch von wichtigen Erklärungen begleitet. Diese Erklärungen beginnen sogar damit, wie der Fuss gesetzt werden muss; dass man positiv denken muss; Was Telepathie ist, wie man damit umgehen sollte… Ja, vielleicht ist es das Alter, aber Meister Tada ist jetzt in Japan sehr bekannt, und er hat eine klare Linie. Begleitet von einem klaren Kopf. Seine Bewegung ist trotz seines Alters »sehr fit« – seine Konzentration ist enorm – das Interessante ist, dass er sehr auf die Fussbewegung achtet.

Es würde mich wirklich interessieren, wie es jetzt mit dem Aikido in Italien bestellt ist, nachdem er nun einige Jahre nicht mehr dort weilt.


Aikido kam aus Japan zu uns, es ist mit Harmonie, Empfindungen, Gefühlen, aber auch der Psyche eines Menschen im permanenten Austausch. Der Japaner, der uns Westlern dieses »Aikido« brachte, ist oder war »theoretisch« fast nicht in der Lage, über Gefühle zu reden, noch sie zu zeigen. Kann es sein, dass deshalb Aikido noch nie richtig erklärt wurde?

Das kann ich mir sehr gut vorstellen, denn es wurden und werden immer noch nur Bewegungen gezeigt; die Technik hat Vorrang. Insofern ist Meister Tada, in Japan ein wenig »seltsam«, denn er erklärt sehr viel. So spricht er z.B. auch von Gesamtheit…

Von Gesundheit direkt spricht er nicht, eher von der Rolle der Atmung für die Gesundheit, und der Schliessung des Aftermuskels in den Bewegungen, und der geistigen Haltung, die ja auch zur Gesundheit beiträgt.

Das ist dann eher so wie bei den chinesischen Kampfkünsten. Ob allerdings hier, bei den Kung Fu-Schulen, alles erklärt wird, das weiss ich auch nicht so genau.


Was im Aikido, das ja sehr umfassend ist, müsste in der Lehre noch mehr hervorgehoben werden?

Klarer die Gedanken von Meister Ueshiba betonen. Dass das Friedlich-Sein mehr beinhaltet als Stärke – dass man die innere Kraft herausholen kann, die ja viel stärker ist als die blosse Muskelstärke. Dieses mehr zeigen. Diese Stärke ist im Menschen fundamentiert, sie schützt ihn, weil sie ihm wahre Stärke vermittelt, wodurch wieder Friede entsteht.

Aikido hat gewaltig mehr Potenzial als das »normale« Budo, weil es in das Geistige hineingeht. Dieser für mich wichtige Bestandteil des Aikido wird leider viel vergessen. Es ist vor allem aber auch ein Bestandteil des Lebens, nicht wahr?


Durch die Aussage, »Aikido geht in das Geistige hinein« wird mir oft das Gefühl vermittelt, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl der Übenden bereits in philosophisch-esoterischen Höhen weilt.
Eigentlich dürfte das nicht sein, denn es sollte über den Körper ablaufen. Wenn z.B. Meister Tada die Fussbewegung auf eine bestimmte Art hervorruft, dann ist das zwar philosophisch und psychologisch gemeint, aber es läuft über den Körper.

So kommen wir wieder zu dem Shizen-Taido, Sotai-ho oder Isogai. Denn das Problem ist eben, dass man seinen eigenen Körper kennen muss, um überhaupt im Gleichgewicht zu sein, welches die Grundlage unserer Gesundheit darstellt. Erst dann kann ich mit dem Körper des Partners umgehen.

Spätestens hier merkt man, dass das meistens umgekehrt abläuft – was die Grundlage deiner Fragen ist. Denn das Resultat des falschen Aufbaues ist überall zu sehen. Dann überwiegen leider auch verbale Werte.

Ich bin schliesslich auch Japaner, und habe auch einmal Aikido geübt. Aber mein Interesse galt schon vor vielen Jahren den chinesischen Heilmethoden, die ich dann auch studierte – so erklärt sich mein Interesse an der Chinesischen Kultur. Schnell aber bekam ich Probleme mit der Haltung, denn als Japaner hat man die starre »Samurai-Haltung« – Brust und Po herausstrecken. Was man auch im Zen findet. Im Kendo kannst du das auch beobachten, da wird noch der Bauch herausgedrückt und der Schwerpunkt gesenkt.

Die Chinesen dagegen sagen das überhaupt nicht, dort heisst es: Brust und Bauch locker halten, und den Rücken etwas rund.

Genauer betrachtet ist beides das Gleiche, denn mit einer steifen »Samurai-Haltung« kann man nicht rollen, auch kann ich mit einer solchen Haltung kein Schwert stossen. Folglich ist die japanische Haltung ein Trugbild, eine Primärhaltung, die im entscheidenden Moment geändert werden muss. Denn die Benutzung des Beckens ist unterschiedlich. Aber das wird den Übenden nicht richtig erklärt.

Im Kendo war es früher eher rund, im modernen Kendo ist das nicht mehr so – was zu Problemen führen könnte. Leider ist das auch im japanischen Budo heute so. Also sagen alles das Gleiche – deshalb ist es für jeden Aikidoka, Anfänger wie Fortgeschrittene, wichtig sich unbedingt mit seinem Körper auseinanderzusetzen. Auch zu lernen den Aftermuskel zu schliessen.

Ich habe dies jetzt auch in die Schwertkunst mit übernommen, das erhöht die Komplexität. Auch beim Gehen, dem suri-ashi, beim Schlagen, wie im Iai: den Muskel schliessen. Denn nur so kann ich z.B. auch einen ki-ai ausstossen. Ohne geschlossenen Aftermuskel ist das nicht möglich. Das ist alles wie im Chinesischen. Es ist nicht nur für Aikidokas wichtig, und nicht nur Aikido ist wichtig; es gilt, von vielen Disziplinen zu lernen und zu verstehen.

Der Körper ist eine Einheit; das möchte ich, wenn ich nächstes Jahr wieder nach Japan gehe, in einem Dojo - Jigenryu - mit 500-jähriger Tradition vertiefen.


Als ich diese Dinge bemerkte, war es für mich wichtig, mit dem Aikido aufzuhören und mit Shizen-Tai zu beginnen. Das führte dazu, dass ich zum einen Aikido von aussen betrachten konnte, gleichzeitig hatte ich ein angenehmes »rundes Gefühl«: Alleine schon der andere Stand vermittelt mir Ausgeglichenheit. Und dann von aussen die Bewegungen von Ueshiba erneut zu sehen, erweckte meine Neugierde auf Neues, da er vieles anders machte und vieles auch sagte, was oft erst im zweiten oder dritten Anlauf zu verstehen ist. Man muss also tiefer graben.

Deshalb sind die Schülerzahlen im Dojo nicht so wichtig, sondern das Verstehen, und das Weitergeben. Die Schüler verstehen das auch sehr schnell, ob der Lehrer nur Techniken vermittelt, oder ob er sucht, offen ist, und das im Endeffekt auch vermitteln kann. Eben den Weg gehen.

Ich denke, so ist das auch mit Gerhard Walter, nachdem was ich so im Aikidojournal von ihm lese, geht er seinen Weg. Dadurch wird ein Lehrer interessanter, denke ich.

Ja, man muss natürlich auch Tiefen überstehen, sonst wird man nie ein richtiger Lehrer. Diesbezüglich geht es dem Schüler wie dem Lehrer. Man muss auch alleine trainieren und die Gefahrenquelle des Falschen umschiffen, die sehr wichtig für die Erfahrung ist. Wenn ich eine Stunde bei Meister Tada zuschaue, dann hat das für mich ein hohes Lernpotenzial. Oft sehe ich von Aussen mehr, als wenn ich teilnehme. Tada zu kopieren ist aber auch wieder nicht möglich, das muss mein Eigenes werden.


Ist das nicht auch ein Problem des tradierten Lernens?

Es ist eben eine Lernmethode, und irgendwann fliesst dann doch das Eigene aus diesen vielen Kopien. Man sieht es ja bei älteren Tada-Schülern, sie haben viel abgeschaut, aber irgendwann kam ihr Aikido heraus. Tamura sagte das doch auch in seinem letzten Interview, nicht wahr?

Ich weiss natürlich auch, das Meister Tada noch nicht all zu lange »runder«, und »lockerer« ist. Das zeigt doch, dass auch er noch lernt, das ist nicht nur das Alter.


Liegt es vielleicht auch daran, dass es in der japanischen Lehrmethode keine Pädagogik gibt?

Das ist japanische Tradition, dies ablegen zu wollen, erfordert einen Kraftakt.

Das Sitzen ist ein gutes Beispiel, wenn man »Samurai-mäßig« dasitzt, dann sieht das vielleicht gut aus, aber so kann niemand drei Stunden sitzen. Man muss den Rücken ganz leicht runden und die Beckenposition ebenso leicht verändern, dann sieht das sicher nicht mehr so schön aus, ist aber stabil und für den Körper angenehm.
Ich kenne auch einige Menschen aus Zenklöstern, die kaputte Knie haben, weil sie nicht locker und zu gerade sitzen.


Also hat man trotz guter Kenntnisse, in Sotai-ho, Isogai etc,. kein Übertragen, keine Lehrmethode, um es Übenden wie Lehrern zu vermitteln?

Die Körperhaltung ist ein weites, interessantes Feld. Es sind oft nur Millimeter, die in der Körperhaltung – der Beckenstellung – über „das was“, und „wie ist es richtig“ entscheiden. Das Falsche spürt man leider erst nach vielen Jahren, wenn man als junger Mensch zu üben beginnt.
Wie sich das nun in der Zukunft für das Aikido entwickelt, das kann ich auch nicht sagen. Ich kann nur eine, mir bekannte Lösung anbieten. Denn ich werde oft gefragt, kann ich denn überhaupt mit meinen Rückenproblemen Aikido betreiben? Schon da benötigen diese Menschen eine positive Antwort, dann aber auch eine entsprechende Führung. In solchen Fällen ist aber erst einmal eine Stärkung des Körpers wichtig. Zum Beispiel erst einmal nicht Rollen, nur im tachi-waza üben. Wie im Tai-chi z.B., wo es dieses verletzungsgefährliche ukemi nicht gibt.
Eine Vorwärtsrolle ist doch für einen Anfänger ein Horror; dazu kommt, dass der heutige Mensch eine andere Einstellung zu seinem Körper hat als noch vor 30 Jahren; auch sind die heutigen Körper bereits in einer anderen Verfassung. Selbst Kinder sind heute nicht mehr so aktiv wie vor 30 oder 40 Jahren. Der Stuhl ist ein „unterstützendes Begleitmöbel“ geworden.
So ist es wichtig, das man vermittelt, dass das Rollen einen hohen Stellenwert hat, dass es sehr viel Freude bringt.


Sind nicht sehr viele Jahre verloren gegangen, weil die Shihans zwar mit Aikido im Gepäck, aber ohne Pädagogik, in den Westen gingen? Oder sollte ich erkennen, dass das Aikido nicht verändert werden durfte?
Was meinst du zu der Aussage, die ich oft höre: „Im Westen wird das bessere Aikido gemacht“?

Das hörst nicht nur du, ich höre das auch. Anderseits sind die Japaner in der Ernsthaftigkeit, in ihrer Einstellung, also im Training besser, gradliniger. Ja, Italiener, Franzosen sind sehr geschickt, haben eine sehr gute Bewegung. Aber es ist nur die Bewegung, man sollte damit nicht zufrieden sein. Denn wenn man zum Beispiel etwas Einfaches immer wieder wiederholt, dann erfährt man so etwas wie eine „Erleuchtung“, und dann fliesst Energie.
Das gilt auch für mich, denn wenn das ki gut fliesst, dann heisst das für mich als Lehrer, dass ich etwas zeigen kann, dass die Freiheit der Bewegung sichtbar wird – die Schüler nehmen das wahr.
Ich sehe und höre von vielen, die mit hohen Dan-Graden Bundeslehrer waren, die große Schulen leiten, dass sie körperliche Probleme haben, die Knie machen nicht mehr mit, die Gelenke zeigen große Verschleiss-Erscheinungen, die Schülerzahlen sinken – die heutigen Ansprüche sind deutlich anders als vor einigen Jahren - niemand will sich freiwillig seine Knochen kaputt machen…


Wir haben vor einigen Jahren über das Üben mit der Eisenstange gesprochen …

Ja, es ist eine geistige Verfehlung, aber damals war es wichtig, denn dadurch habe ich letztendlich mit dem Aikido aufgehört und mit sotai-ho begonnen. Eine Erfahrung, wenn du so willst, die wichtig war.
Bis zum Umfallen habe ich das geübt, aber ich habe nie zu meinen Schülern gesagt, dass sie das auch tun sollen. Ich habe mir dann eine andere Technik zugelegt, mit den angezogenen Ellenbogen, also eine schonende Haltung beim Schlagen, ähnlich wie das bei Meister Shioda, von Yoshikan lehrte.

Heute mache ich das viel mit Kindern, um die Mittelachse zu betonen und die Schultern nach vorne zu nehmen.

Beim japanischen Budo hat das Schlagen eine gewisse Rolle. Zu diesem Zweck haben wir jetzt bei den Umbauarbeiten einen Eichenstamm im Dojo eingebaut. Um das Tategiuchi schlagen zu üben.
Wie gesagt, heute mache ich so etwas nicht mehr, ich übe heute, als seien mir Flügel gewachsen, ich hüpfe auf dem vorderen Teil der Füße, sehr schnell im Wechsel.


Du sagst also, dass es wichtig ist, viel zu üben und zu wiederholen, um ki zu entwickeln?

Ja. Mit der Bewegung fließen auch die Gedanken weg. Es geschieht etwas außen. Eine natürliche Bewegung auszuführen lernen. Das ist jetzt Sotai-ho, es wird „natürlich“. Sotai-ho ist angenehmes Bewegen. Aber man muss erst sensibel für das “Natürliche“ werden. Es darf nicht mit Zwang, oder über Widerstand kommen. Freude mit angenehmer Bewegung. Wie ein Naturgesetz. Denn die Schüler kommen nur gerne, wenn sie Freude haben. Der heutige Rhythmus ist anders als der, wie wir früher geübt haben. Natürliche Bewegungen sind am stärksten, das ist es, was wir finden müssen. Vielleicht ist auch noch nicht alles gefunden.

Stark sein und weit werfen, das sind Dinge, die der Vergangenheit angehören, das ist nicht interessant, das bringt kein Gefühl für den Körper, das bringt keinen Lernprozess und schon gar keine Gesundheit.


Den gesellschaftlichen Pazifismus der Vergangenheit sehe ich schwinden. Vielleicht liegt darin ein Bereitschaftsproblem für Aikido?

Das ist gut möglich, die Zeit ändert sich.
Für mich war die Natur ein großes Thema, und die natürliche Bewegung wie auch der Friede. Nun wird aber auch die Natur kaputt gemacht. Die Umwälzungen sind sehr heftig, so war für mich Aikido immer ein gutes Ventil für eine Harmonisierung. Nicht stoßen und schlagen, sondern Freude. Wie lebe und praktiziere ich Frieden und Einheit mit der Natur? Das ist mir heute wichtig.


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