Prof. Dr. rer. nat. Thomas Christaller - AJ 68DE

Das ist nicht Aikido, das kann nicht Aikido sein.

Aikidojournal Interview

„Heute sucht niemand mehr einen Guru – der Mensch will heute selbst die Erfahrungen verspüren, die den Vorbildern nachgesagt wurden. Er sucht den, der ihm einen Anreiz, eine Leitlinie dafür geben kann, um daraus vielleicht sogar eine Lebensphilosophie entwickeln zu können.“
So sei er nun wieder an der Uni tätig, sagt mir Thomas Christaller, der früher aber etwas ganz anderes dort unterrichtete. Was Künstliche Intelligenz (KI) – wie schafft man Systeme, die so intelligent sein können wie wir Menschen – genannt wird. Heute, genauer seit drei Jahren unterrichtet er dort »am Hochschulsport« Aikido – was sonst. Seine Erfahrungen sind dort different zu denen aus dem eigenen Dojo. Es erging ihm, wie es eigentlich an jeder Uni ist: zu Semesterbeginn drängen sich Hunderte [je nach Universitätsgröße] auf der Matte und zu Semesterende sind es oft nur noch eine Handvoll… Nun, nach drei Jahren aber kann Thomas auf eine »Stammmannschaft« zählen.

„Ich mache kein reines Körpertraining, ich halte auch keine Monologe, auch gebe ich ihnen keine Anleitung für »Tricks« – wie auch, die gibt es ja nicht. Ich setze alles daran, dass die Teilnehmer eine Haltung, eine Einstellung und eine eigene Persönlichkeit entwickeln können, ohne dieses zu psychologisieren – dafür gibt es Spezialisten, die sie bei Bedarf aufsuchen könnten. Nein, ich glaube, das ist auch die ursprüngliche Idee des modernen japanischen Budo gewesen, eine bestimmte Haltung zu entwickeln. Was aber nach meiner Meinung hier in Europa oder besser in der westlichen Welt verloren gegangen ist. Die Neuentdeckung dieser Haltung erweckte dann einen gewissen Reiz. Dieses Wissen wieder zu etablieren, darin besteht die eigentliche Aufgabe.

Ich besuchte früher viele Lehrgänge bei Meister Asai. Das Hauptziel dieser Kurse war, einen Zustand der physischen Erschöpfung zu erlangen, um sich dann aber weiter zu bewegen. Ich habe das auch gerne mitgemacht, zu lange mitgemacht – eben unwissend. Diese Erfahrung ist wertfrei. Aber heute sage ich: Das ist nicht Aikido, das kann nicht Aikido sein. Diese Form könnte ein Bestandteil des Trainings sein, aber mehr auch nicht.

1986 bin ich das erste Mal nach Japan gereist. Ich hatte natürlich meine Trainingskleidung dabei, um im Honbu Dojo trainieren zu können. Der Zufall wollte es wohl so, dass ich an einem Freitagabend dort hinein ging und Watanabe Nobuyuki zum ersten Mal sah. Der Unterricht war am Anfang »ganz normal« – ab der Hälfte der Stunde dachte ich dann, dass kann nicht Aikido sein. Der warf die Leute nur so um, brummte vor sich hin, zeigte mit dem Finger nur dort oder hier hin und die fielen um. Er hatte einen US-Amerikaner als Uke, der mindestens 1,90 maß und sehr athletisch gebaut war. Als ich mit dem trainierte, bemerkte ich, dass der nicht einfach so hinfiel – wenn er Watanabe so angegriffen hat wie mich und nicht wegen des japanischen Meisterbonus einfach so fiel, dann muss da etwas anderes gewesen sein, als einfach eine Verabredung: Wenn der Meister den Finger hebt, dann falle ich hin. Lange probierte ich alleine aus, um dahinter zu kommen, was es war, was ich dort gesehen habe. Es dauerte ewig bis ich, ich meine es war 1994, heraus bekam, dass Watanabe Sensei regelmäßig nach Deutschland kommt. Sabine, meine Frau, und ich fuhren dann gleich zu ihm nach Süddeutschland. Für mich war dann auch sofort klar, das ist mein Lehrer. Das ist es, was ich verstehen will. Ich habe es damals natürlich noch nicht verstanden. Aber heraus zu finden eine eigene Haltung zu entwickeln, mit der man nur da steht und die Aggression berührt einen nicht mehr – das finde ich wesentlich interessanter als jemanden mit großem Kawumm in die Ecke zu feuern. Da braucht man kein Iriminage, Shihonage etc., das spielt keine Rolle mehr.“

Jahrelang versuchen wir es, Techniken zu beherrschen – dieses lässt uns keinen Freiraum heraus zu treten und uns zu beobachten, außerdem lernen wir nicht von Lehrern die O Sensei oder Hirokazu Kobayashi heißen. Verschwenden wir nicht Jahrzehnte?

„Ich folge jetzt der zweiten Einladung nach Moskau, um dort einen Lehrgang abzuhalten – aber nicht weil ich der große Meister bin. Nein, ich agiere dort als »Übersetzer«. Ich habe diese Leute auf den Lehrgängen von Watanabe Sensei kennen gelernt. Deshalb luden sie mich ein. Sie sagten mir letzthin, dass sie mit Aikido aufhören wollten. Sie sahen keinen Sinn mehr in dieser »Üben-Üben-Falle«. Durch Watanabe Sensei erkannten auch sie ein neues Universum, einen sinnvollen Weg. Nur ist er natürlich in einer Sphäre, die es einem nicht gerade erleichtert zu verstehen, wie er das zustande bringt. Durch mich erhoffen sie sich einen Zugang zu finden – der Übersetzer eben. Denn das, was er macht, dass bekommt man nicht so direkt nachgemacht.
Es gibt Foren, in denen seine Art eifrig diskutiert wird. Da heißt es oft, „Beleidigung des Aikido“, „bullshit“, „kann nicht funktionieren“.
Man ist als Lehrer ja auch schnell in einer festen Bahn und will oft etwas zeigen, was, wenn der Angreifer nicht so mitspielt, schnell in die Hose geht . Mit seiner Haltung aber ist das ziemlich egal. Ich weiß, von was ich rede, denn auch ich war kein Kind von Traurigkeit. Ich habe sehr hart trainiert und ich kann sagen, dass das Aikido von Watanabe Sensei zu 100% funktioniert. Will man das selber machen, dann muss man sich aber innerlich total aufgeben, die Technik vergessen und Haltung zeigen. Klar kommt auch bei mir am Ende eine Technik. Sie ist aber unwichtig, das ist Gymnastik, der physikalische Nachklatsch dessen, was vorher schon längst entschieden wurde. Das ist das Spannende, mit dem man jeden Tag von vorne beginnt. Denn ich weiß doch nicht, wer kommt morgen dort durch diese Tür und bewegt sich für mich ganz ungewohnt.“

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